Juckreiz/Pruritus/Einführungsartikel


Viele Jahre ging man davon aus, dass die Juckempfindung eine Unterform des Schmerzes darstellt („der kleine Bruder des Schmerzes“), da es durch Schmerzreize (das Kratzen) beendet werden kann. Mittlerweile weiß man, dass es zwar einige Parallelen, aber eben auch deutliche Unterschiede zwischen beiden gibt.[1] Das chronische Jucken (länger als 6 Wochen) wird nicht nur durch Hauterkrankungen sondern durch sehr viele verschiedene Erkrankungen (wie beispielsweise neurologische, also die Nerven betreffende, Erkrankungen) verursacht.

Chronisches Jucken ist in der Allgemeinbevölkerung sehr häufig – nahezu jeder vierte ist in seinem Leben davon betroffen.[2] In einer Studie von Ständer et al. konnte gezeigt werden, dass etwas mehr Frauen vom chronischen Jucken betroffen waren als Männer (etwa 55 % versus etwa 46 %).[3] Auch hinsichtlich der Grunderkrankung und der zusätzlichen Erkrankungen zeigen sich Geschlechterunterschiede: Zum Beispiel liegt bei Frauen häufiger eine neurologische (die Nerven betreffende) oder psychische Erkrankung dem Jucken zugrunde, bei Männern sind Hauterkrankungen öfter ursächlich. Während Frauen zusätzlich zum Jucken häufiger unter psychischen oder rheumatologischen Erkrankungen leiden, sind Männer neben dem Jucken öfter auch von Herzkreislauferkrankungen oder Erkrankungen der Harn- und Geschlechtsorgane betroffen.

Häufig leiden die Betroffenen sehr stark unter dem Jucken, was nicht selten zu psychischen Erkrankungen wie einer Depression oder Angsterkrankung führt. Von Angst- oder Depressionsbeschwerden sind häufiger Frauen als Männer betroffen.[4] [5] Ob Ängste und Depressionen auch Risikofaktoren für chronisches Jucken darstellen, ist bisher noch nicht bekannt. In einzelnen Studien konnte gezeigt werden, dass sich soziale Unterstützung (z. B. durch Freunde oder die Familie) positiv auf das chronische Jucken auswirkt.[6] [7] Möglicherweise liegt dies daran, dass Betroffene durch soziale Unterstützung besser mit Stress umgehen können,[8] der wiederum eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung von chronischem Jucken spielt. Bisher ist es jedoch völlig unbekannt, ob es hierbei geschlechtsspezifische Unterschiede gibt.

Verschiedene Zellen in der Haut schütten auf bestimmte Reize Botenstoffe aus (z. B. Histamin), die die Juckempfindung auslösen. Die Botenstoffe docken dafür nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip an bestimmten Stellen (sog. Rezeptoren) an spezialisierte Nervenfasern in der Haut an. Die dadurch aktivierten Nervenfasern geben Signale zum Rückenmark weiter. Das Rückenmark leitet die Informationen dann schließlich zum Gehirn. Hier kommt es zu der Aktivierung bestimmter Regionen, durch die dann die Juckempfindung wahrgenommen wird. Obwohl dieser Signalweg in den letzten Jahren intensiv beforscht wurde, ist das Wissen über Unterschiede zwischen Männern und Frauen nur sehr bedingt vorhanden. Dennoch konnte bereits 1990 gezeigt werden, dass Frauen auf die Juckreiz-auslösende Substanz Histamin eine stärkere Reaktion aufwiesen als Männer (stärkere Juckempfindung, stärkere Hautreaktion).[9] Wahrscheinlich wurde diese stärkere Reaktion jedoch nicht durch die Nervenfasern bedingt, sondern durch andere körperliche sowie auch psychische Reaktionen. Insgesamt konnte in mehreren Studien gezeigt werden, dass Frauen das Jucken insgesamt intensiver wahrnehmen als Männer.[10] [11] [12] Dies deckt sich mit den Ergebnissen von Schmerzstudien. Hier gaben Frauen ebenfalls höhere Schmerzintensitäten an und litten im Gegensatz zu Männern vermehrt unter schmerzhaften Erkrankungen.[13] [14]

Zudem scheint auch eine unterschiedliche Verarbeitung der Juckempfindung im Gehirn für Geschlechterunterschiede bei Juckreiz verantwortlich zu sein. Die Juckempfindung wird im Gehirn durch die Aktivierung verschiedener Regionen bedingt. Entsprechend den Kenntnissen aus der Schmerzforschung geht man davon aus, dass das Zusammenspiel verschiedener Bereiche mit unterschiedlichen Funktionen die Verarbeitung ermöglicht. Bei Frauen wurde eine vermehrte Aktivierung der Gehirnregionen gefunden, die für die Entschlüsselung der Berührungsreize („wo und wie stark juckt es im Körper“), der emotionalen Beurteilung („wie unangenehm ist das Jucken“) und der Handlungsplanung (Planen der Antwort auf den Juck-Reiz – das Kratzen) verantwortlich sind. In Analogie zu Studien zur Schmerzverarbeitung wäre also denkbar, dass Frauen die Juckempfindung mehr antizipieren können und sie emotional sowie gedanklich stärker wahrnehmen. Die vermehrte stärkere Aktivierung der für die Handlungsplanung verantwortlichen Gehirnregionen könnte auch erklären, warum Frauen tendenziell stärker kratzen, was zu größeren Verletzungen und Kratzspuren auf der Haut führt.[15]

Neben biologischen Unterschieden in der Juckempfindung scheinen nicht nur unterschiedliche Verhaltensmuster (vermehrtes Kratzen bei Frauen) eine Rolle zu spielen, sondern auch der Umgang mit den Beschwerden und die daraus resultierenden psychischen Folgen. Frauen scheinen nach der aktuellen Datenlage die Juckempfindung nicht nur stärker wahrzunehmen, sondern auch stärker unter dieser zu leiden, was vermehrt zu psychischen Beschwerden wie Ängsten und Depressionen führen kann.[16] [17] Aber auch die Größe der betroffenen Haut scheint eine Rolle zu spielen. So zeigt sich bei Frauen ein Zusammenhang zwischen einem bereits zu Beginn der Symptomatik bestehendes Jucken über den ganzen Körper und Ängsten und Depressionen.[18] Bei Männern scheint das Kratzen eine größere Rolle zu spielen. Hier zeigen sich Zusammenhänge zwischen Depressionswerten und der Patientengruppe mit zahlreichen Verletzungen durch das Kratzen. Es wäre somit denkbar, dass Gefühle des Kontrollverlustes oder auch der Hilflosigkeit hinsichtlich des frustranen Juckens bei Männern Depressionsbeschwerden begünstigen. Durch die Juckempfindung scheint die Lebensqualität von Frauen nachhaltiger beeinträchtigt zu sein als bei Männern.[19] Von Studien, die Patientinnen und Patienten mit anderen z. T. entstellenden Hauterkrankungen untersucht haben, weiß man, dass insbesondere junge Frauen unter den Erkrankungen leiden, wobei die gewünschte Rolle bzw. das gängige Schönheitsideal in der Gesellschaft einen wichtigen Faktor darstellen.[20] [21] [22] [23] Ob sich dies auch auf Patientinnen und Patienten mit chronischem Jucken übertragen lässt, müsste in weiteren Studien untersucht werden.

Festzuhalten ist, dass viele Sachverhalte bisher nur sehr wenig oder gar nicht untersucht wurden, so dass es dringend notwendig ist, weitere Studien durchzuführen, um den Betroffenen eine geschlechtsadaptierte Diagnostik und Therapie anbieten zu können.

Literatur[Bearbeiten]

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  1. Ständer S, Schmelz M. Chronic itch and pain--similarities and differences. Eur J Pain 2006 Jul;10(5):473-8.
  2. Ständer S, Schafer I, Phan NQ, Blome C, Herberger K, Heigel H, et al. Prevalence of chronic pruritus in Germany: results of a cross-sectional study in a sample working population of 11,730. Dermatology 2010;221(3):229-35.
  3. Ständer S, Stumpf A, Osada N, Wilp S, Chatzigeorgakidis E, Pfleiderer B. Gender differences in chronic pruritus: women present different morbidity, more scratch lesions and higher burden. Br J Dermatol 2013 Jun;168(6):1273-80.
  4. Ständer S, Stumpf A, Osada N, Wilp S, Chatzigeorgakidis E, Pfleiderer B. Gender differences in chronic pruritus: women present different morbidity, more scratch lesions and higher burden. Br J Dermatol 2013 Jun; 168(6):1273-80.
  5. Stumpf A, Ständer S, Warlich B, Fritz F, Bruland P, Pfleiderer B, et al. Relations between the characteristics and psychological comorbidities of chronic pruritus differ between men and women: women are more anxious than men. Br J Dermatol 2015 May;172(5):1323-8.
  6. Evers AW, Lu Y, Duller P, van der Valk PG, Kraaimaat FW, van de Kerkhof PC. Common burden of chronic skin diseases? Contributors to psychological distress in adults with psoriasis and atopic dermatitis. Br J Dermatol 2005 Jun;152(6):1275-81.
  7. Dalgard F, Svensson A, Sundby J, Dalgard OS. Self-reported skin morbidity and mental health. A population survey among adults in a Norwegian city. Br J Dermatol 2005 Jul;153(1):145-9.
  8. Evers AW, Lu Y, Duller P, van der Valk PG, Kraaimaat FW, van de Kerkhof PC. Common burden of chronic skin diseases? Contributors to psychological distress in adults with psoriasis and atopic dermatitis. Br J Dermatol 2005 Jun;152(6):1275-81.
  9. Magerl W, Westerman RA, Mohner B, Handwerker HO. Properties of transdermal histamine iontophoresis: differential effects of season, gender, and body region. J Invest Dermatol 1990 Mar;94(3):347-52.
  10. Ständer S, Stumpf A, Osada N, Wilp S, Chatzigeorgakidis E, Pfleiderer B. Gender differences in chronic pruritus: women present different morbidity, more scratch lesions and higher burden. Br J Dermatol 2013 Jun;168(6):1273-80.
  11. Stumpf A, Ständer S, Warlich B, Fritz F, Bruland P, Pfleiderer B, et al. Relations between the characteristics and psychological comorbidities of chronic pruritus differ between men and women: women are more anxious than men. Br J Dermatol 2015 May;172(5):1323-8.
  12. Stumpf A, Burgmer M, Schneider G, Heuft G, Schmelz M, Phan NQ, et al. Sex differences in itch perception and modulation by distraction--an FMRI pilot study in healthy volunteers. PLoS One 2013;8(11):e79123.
  13. Fillingim RB, King CD, Ribeiro-Dasilva MC, Rahim-Williams B, Riley JL, III. Sex, gender, and pain: a review of recent clinical and experimental findings. J Pain 2009 May;10(5):447-85.
  14. Riley JL, III, Robinson ME, Wise EA, Myers CD, Fillingim RB. Sex differences in the perception of noxious experimental stimuli: a meta-analysis. Pain 1998 Feb;74(2-3):181-7.
  15. Ständer S, Stumpf A, Osada N, Wilp S, Chatzigeorgakidis E, Pfleiderer B. Gender differences in chronic pruritus: women present different morbidity, more scratch lesions and higher burden. Br J Dermatol 2013 Jun;168(6):1273-80.
  16. Ständer S, Stumpf A, Osada N, Wilp S, Chatzigeorgakidis E, Pfleiderer B. Gender differences in chronic pruritus: women present different morbidity, more scratch lesions and higher burden. Br J Dermatol 2013 Jun;168(6):1273-80.
  17. Stumpf A, Ständer S, Warlich B, Fritz F, Bruland P, Pfleiderer B, et al. Relations between the characteristics and psychological comorbidities of chronic pruritus differ between men and women: women are more anxious than men. Br J Dermatol 2015 May;172(5):1323-8.
  18. Stumpf A, Ständer S, Warlich B, Fritz F, Bruland P, Pfleiderer B, et al. Relations between the characteristics and psychological comorbidities of chronic pruritus differ between men and women: women are more anxious than men. Br J Dermatol 2015 May;172(5):1323-8.
  19. Ständer S, Stumpf A, Osada N, Wilp S, Chatzigeorgakidis E, Pfleiderer B. Gender differences in chronic pruritus: women present different morbidity, more scratch lesions and higher burden. Br J Dermatol 2013 Jun;168(6):1273-80.
  20. Szepietowski JC, Reich A, Wesolowska-Szepietowska E, Baran E. Quality of life in patients suffering from seborrheic dermatitis: influence of age, gender and education level. Mycoses 2009 Jul;52(4):357-63.
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  22. Szepietowski JC, Reich A, Wesolowska-Szepietowska E, Baran E. Quality of life in patients suffering from seborrheic dermatitis: influence of age, gender and education level. Mycoses 2009 Jul;52(4):357-63.
  23. Borimnejad L, Parsa YZ, Nikbakht-Nasrabadi A, Firooz A. Quality of life with vitiligo: comparison of male and female muslim patients in Iran. Gend Med 2006 Jun;3(2):124-30.
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