Geschlecht: Unterschied zwischen den Versionen

 
(5 dazwischenliegende Versionen desselben Benutzers werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
  
==Informationsaustausch und Krankheitsverständnis==
+
Medizinische Versorgung ist nicht geschlechterneutral. Dabei nimmt nicht nur das Geschlecht der zu behandelnden Person Einfluss auf den Versorgungsprozess. Entscheidend kann auch sein, ob das jeweilige Fachpersonal weiblich oder männlich ist. Studien erkennen und bestätigen einen oft unbewussten „Gender Bias“: Zum Beispiel scheinen Patienten im Vergleich zu Patientinnen mit Typ-2-Diabetes signifikant seltener eine optimale Behandlung zur Vermeidung von möglichen Folgekomplikationen zu erhalten. Zudem betreuen Ärztinnen Patienten und Patientinnen mit Typ-2-Diabetes besser und betreiben intensiver prognostisch wichtiges Präventionsmanagement als Ärzte. Ärztinnen gelingt es besser als ihren männlichen Kollegen, den Blutzuckerspiegel und den Blutlipidspiegel zu senken.<ref>Gouni-Berthold I, Berthold HK, Mantzoros CS, Böhm M, Krone W. Sex disparities in the treatment and control of cardiovascular risk factors in type 2 diabetes. Diabetes care 2008; 31(7):1389–91.</ref> Desweiteren geben Männer in Gegenwart von weiblichem Fachpersonal ein geringeres Schmerzlevel an als in Gegenwart von männlichen Versorgern. Sozial verankerte Geschlechterbilder („der starke Mann“) scheinen dabei eine Rolle zu spielen. Frauen werden bei ihren Schmerzäußerungen nicht durch das Geschlecht des Fachpersonals beeinflusst und stufen ihre Schmerzen generell höher ein als Männer.<ref>Aslaksen PM, Myrbakk IN, Høifødt RS, Flaten MA. The effect of experimenter gender on autonomic and subjective responses to pain stimuli. Pain 2007; 129(3):260–8.</ref> Dabei ist die Frage berechtigt, inwiefern Schmerz tatsächlich typisch „weiblich“ ist und wie stark das [[Das soziale Geschlecht („Gender“)|soziale Geschlecht]] Einfluss auf die Bewertungsprozesse nimmt.<ref>Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52.</ref>
  
==<span style="font-size: 14px;">Männer und Frauen kommunizieren unterschiedlich. <ref>Cronauer CK, Schmid Mast M. Geschlechtsspezifische Aspekte des Gesprächs zwischen Arzt und Patient. Die Rehabilitation 2010; 49(5):308–14.</ref> Patientinnen beteiligen sich aktiver an medizinischen Gesprächen, fragen mehr nach und zeigen sich interessierter an ihrem  Krankheitsstand als Patienten.<ref>Hall JA, Roter DL. Patient gender and communication with physicians: results of a community-based study. Women's health (Hillsdale, N.J.) 1995; 1(1):77–95.</ref> Zudem sprechen sie  häufiger psychosoziale Themen an, geben mehr (private) Informationen von sich preis und sind eher in der Lage ihre Emotionen in Worte zu fassen. Patientinnen äußern ihre Schmerzen öfter und auch akkurater (d. h. dem Schmerzgeschehen entsprechender) als Patienten.<ref>Kunz M, Gruber A, Lautenbacher S. Sex differences in facial encoding of pain. The journal of pain : official journal of the American Pain Society 2006; 7(12):915–28.</ref></span><br style="font-size: 14px;"><span style="font-size: 14px;">Geschlechterspezifischer Kommunikationsstil und Informationsfluss können nicht nur das Krankheitsverständnis des Patienten oder der Patientin, sondern auch den Behandlungsablauf maßgeblich beeinflussen. Die Kommunikation zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin sowie den Familienangehörigen und/oder Pflegepersonen kann oft über Jahre hinweg bestehen. Behandlungsziele können sich dabei mit der Zeit oder mit Fortschreiten der Erkrankung ändern und auf Palliativversorgung reduzieren.<ref>Burns C.M., Broom D.H., Smith W.T., Dear K., Craft P.S. Fluctuating awareness of treatment goals among patients and their caregivers: a longitudinal study of a dynamic proe process. Support Care Cancer 2007:187–96.</ref> Ein aktiver Informationsaustausch kann hier helfen, Wissensdefizite aufzudecken und zu beseitigen. Beispielsweise erkennen Patientinnen im Vergleich zu Patienten mit einer onkologischen Erkrankung im Endstadium deutlich häufiger, dass sie nun sterben müssen. Sie können dies zudem besser verbalisieren und sprechen mit ihrem Arzt/ihrer Ärztin öfter über ihre Prognose bzw. Lebenserwartung. Patienten in der gleichen Situation begreifen seltener, dass Heilung nicht mehr Behandlungsziel ist und haben allgemein ein weniger akkurates Krankheitsverständnis. Eine ähnliche Beobachtung wurde bezüglich des Krankheitsverständnisses von Familienangehörigen gemacht: Weibliche Angehörige verstehen eher als männliche Angehörige, dass die Behandlung des erkrankten Familienmitgliedes palliative und nicht (mehr) kurative Zwecke erfüllt.<ref>Burns C.M., Broom D.H., Smith W.T., Dear K., Craft P.S. Fluctuating awareness of treatment goals among patients and their caregivers: a longitudinal study of a dynamic proe process. Support Care Cancer 2007:187–96.</ref> </span><br style="font-size: 14px;"><span style="font-size: 14px;">Dabei ist die Erkenntnis, sich in einem progressiven Endstadium der Erkrankung zu befinden, enorm wichtig, um gemeinsame Entscheidung bezüglich der Palliativversorgung treffen zu können. Patienten und Patientinnen mit terminal verlaufenden Erkrankungen stehen vor einer belastenden Entscheidung bezüglich ihrer weiteren Behandlung: Sie müssen gemeinsam mit dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin zwischen einer (begrenzten) Verlängerung der Überlebenszeit und der Toxizität einer Intervention abwägen. Um bei solchen Entscheidungen involviert zu sein und damit ein Mindestmaß an Autonomie behalten zu können, ist ein fundiertes Wissen bezüglich Behandlungsmaßnahmen, aber auch Krankheitsstadium und Prognose auf Seiten des Patienten/der Patientin nötig. Gespräche zwischen dem Arzt/der Ärztin und dem Patienten/der Patientin über seine/ihre Wünsche bezüglich Sterbebegleitung und Palliativversorgung werden assoziiert mit einer weniger aggressiven medizinischen Versorgung während des Sterbeprozesses (u. a. seltener Beatmung oder Maßnahmen zur Wiederbelebung).<ref>Wright AA, Zhang B, Ray A, Mack JW, Trice E, Balboni T et al. Associations between end-of-life discussions, patient mental health, medical care near death, and caregiver bereavement adjustment. JAMA 2008; 300(14):1665–73.</ref> <ref>Mack JW, Weeks JC, Wright AA, Block SD, Prigerson HG. End-of-life discussions, goal attainment, and distress at the end of life: predictors and outcomes of receipt of care consistent with preferences. Journal of clinical oncology : official journal of the American Society of Clinical Oncology 2010; 28(7):1203–8.</ref> Aufgrund ihrer Wissensdefizite spielen Patienten eine eher passive Rolle in krankheitsbezogenen Entscheidungsprozessen und überlassen Behandlungsentscheidungen häufiger ihrer Ärztin oder ihrem Arzt. Patientinnen beteiligen sich deutlich  öfter aktiv an solchen Entscheidungsprozessen <ref>Fletcher K, Prigerson HG, Paulk E, Temel J, Finlay E, Marr L et al. Gender differences in the evolution of illness understanding among patients with advanced cancer. The journal of supportive oncology 2013; 11(3):126–32.</ref> und äußern häufiger den Wunsch, an medizinischen Entscheidungen teilhaben zu können.<ref>Gaston C.M., Mitchell, G. Information giving and decision-making in patients with advanced cancer: A systematic review. Social Science & Medicine 2005; (61):2252–64.</ref> </span><br style="font-size: 14px;"><span style="font-size: 14px;">Obgleich sich Männer im Vergleich zu Frauen weniger gut informieren und ein schlechteres Krankheitsverständnis zeigen, geben sie paradoxer Weise ein größeres Bedürfnis an, prognostische Informationen zu erhalten: In einer Stichprobe von Patientinnen und Patienten mit (nicht terminal verlaufenden) Krebserkrankungen gaben Männer signifikant häufiger als Frauen an, vollständige prognostische Offenheit zu wollen, falls ihre Erkrankung weiter fortschreiten sollte.<ref>Marwit SJ, Datson SL. Disclosure preferences about terminal illness: an examination of decision-related factors. Death studies 2002; 26(1):1–20.</ref></span><br style="font-size: 14px;"><span style="font-size: 14px;">Ursächlich für die Geschlechterdifferenzen im Krankheitsverständnis sind nicht nur Unterschiede im Kommunikationsstil. Auch geben Ärzte und Ärztinnen mehr Informationen an ihre Patientinnen weiter und kommunizieren mit ihnen partnerschaftlicher als mit ihren Patienten.<ref>Cronauer CK, Schmid Mast M. Geschlechtsspezifische Aspekte des Gesprächs zwischen Arzt und Patient. Die Rehabilitation 2010; 49(5):308–14.</ref></span><br style="font-size: 14px;">==
+
<br>
  
==Soziale Unterstützung==
+
==Geschlechterspezifische Kommunikation==
  
==<span style="font-size: 14px;">Soziale Unterstützung während der Behandlung ist ein wichtiger Einflussfaktor psychischen Wohlergehens bei (onkologischen) Erkrankungen. Patientinnen suchen im Vergleich zu Patienten häufiger nach sozialer Unterstützung und nehmen diese auch an, wenn sie ihnen angeboten wird. Zudem unterscheiden sich die Erwartungen an und die Präferenz für die Art der sozialen Unterstützung zwischen den Geschlechtern. Beispielsweise erwarten Frauen vom medizinischen Fachpersonal nicht nur die Bereitstellung von Informationen, sondern auch emotionale Unterstützung. Männer empfinden dagegen emotionale Unterstützung durch das Fachpersonal häufig als unpassend und informative Unterstützung als hilfreicher, um mit den eigenen Emotionen umgehen zu können. Männer scheinen mit der angebotenen sozialen Unterstützung generell zufriedener zu sein, während Frauen die Zeit, die das Fachpersonal unterstützend tätig ist, als zu kurz empfinden. Unklar bleiben die tatsächlichen Bedürfnisse männlicher Patienten bezüglich sozialer Unterstützung. Möglich wäre, dass Männer soziale Unterstützung verstärkt wahrnehmen und nutzen würden, wenn diese als Teil eines strukturierten Versorgungsplans verstanden werden könnte (z. B. psychotherapeutische Maßnahmen während des Krankenhausaufenthalts).<ref>Clarke S.-A., Booth L., Velikova, G., Hewison, J. Social Support: Gender Differences in Cancer Patients in the United Kingdom. Cancer Nursing 2006; 29(1).</ref></span>
+
Vor allem der Hausarzt oder die Hausärztin begleiten den Patienten/die Patientin häufig über viele Jahre und sind meist erste Anlauf- und Koordinationsstelle für die weitere medizinische Versorgung. Die Freiheit, den Hausarzt/die Hausärztin persönlich zu wählen (einschließlich der Wahl des Geschlechts), scheint besonders für Frauen entscheidend. Eine von vier Frauen bevorzugt es, das Geschlecht des Arztes/der Ärztin selbst zu wählen, wobei die Mehrheit eine Hausärztin bevorzugen würde. Je jünger die Patientinnen, desto eindeutiger ist diese Präferenz. Besonders bei sexuellen Problemen bevorzugen Frauen fast immer die Behandlung durch weibliches Fachpersonal. Diese geschlechtsspezifische Präferenz wird unter anderem mit einem patientInnenorientierten Kommunikationsstil erklärt, der vor allem von Ärztinnen praktiziert wird.<ref>Janssen SM, Lagro-Janssen, Antoine L M. Physician's gender, communication style, patient preferences and patient satisfaction in gynecology and obstetrics: a systematic review. Patient education and counseling 2012; 89(2):221–6.</ref> Das Geschlecht des Arztes/der Ärztin spielt also nicht nur bei den zu treffenden Entscheidungen, sondern auch bei der Kommunikation mit den Patienten und Patientinnen, eine wichtige Rolle. Während der Konsultation explorieren Ärztinnen die psychosozialen Umstände der Patienten und Patientinnen genauer, spenden dem emotionalen Zustand mehr Beachtung, treffen einen positiveren Ton, ermöglichen den Betroffenen eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und ermutigen zu mehr Teilhabe an medizinischen Entscheidungen. Ärzten wird dagegen häufig ein eher aufgabenorientierter Kommunikationsstil zugesprochen, der das Herausarbeiten der Krankheitsgeschichte, das Erklären von Diagnosen, und präzise Behandlungsstrategien beinhaltet. Ein Geschlechtereffekt in der Arzt/Ärztin-PatientIn-Beziehung lässt sich diesbezüglich aber nicht feststellen. 
  
==Externe Links==
+
<br>
 +
 
 +
==Geschlechterspezifische Behandlung==
 +
 
 +
Männer und Frauen treffen zuweilen unterschiedliche Entscheidungen bezüglich Diagnose und Behandlung. Zum Beispiel führen Ärzte bei den gleichen Symptomen häufiger eine Rektaluntersuchung bei männlichen Patienten durch als ihre Kolleginnen. Dagegen nehmen Hausärztinnen im Vergleich zu Hausärzten bei Frauen eher eine Vaginaluntersuchung vor.<ref>Shires DA, Stange KC, Divine G, Ratliff S, Vashi R, Tai-Seale M et al. Prioritization of evidence-based preventive health services during periodic health examinations. American journal of preventive medicine 2012; 42(2):164–73.</ref> <ref>Lagro-Janssen, A L M. De geneeskunde is niet genderneutraal: invloed van de sekse van de dokter op de medische zorg. Nederlands tijdschrift voor geneeskunde 2008; 152(20):1141–5.</ref> Es scheinen psychologische Barrieren zu existieren, wenn es darum geht, Patienten oder Patientinnen des anderen Geschlechts sehr persönliche Fragen zu stellen oder intime Behandlungen vorzunehmen. Das führt zuweilen dazu, dass notwendige Behandlungen nicht stattfinden, Ärzte und Ärztinnen bezüglich dieser Untersuchungen weniger erfahren sind und seltener relevante Befunde gemacht werden können. 
 +
 
 +
<br>
 +
 
 +
Hausärzte und Internisten verschreiben häufiger und in höheren Dosen Psychopharmaka, Sedativa und Analgetika als ihre Kolleginnen (und Patientinnen bekommen diese häufiger verschrieben als Patienten).<ref>Johnell K, Fastbom J. Gender and use of hypnotics or sedatives in old age: a nationwide register-based study. International journal of clinical pharmacy 2011; 33(5):788–93.</ref> <ref>van der Waals, F W, Mohrs J, Foets M. Sex differences among recipients of benzodiazepines in Dutch general practice. BMJ (Clinical research ed.) 1993; 307(6900):363–6.</ref> Auch interpretieren Ärzte weibliche Gesundheitsbeschwerden öfter als psychosomatisch als männliche Beschwerden. Zudem verschreiben sie Frauen in der Menopause häufiger hormonelle Ersatztherapien und HIV-positiven Patienten und Patientinnen häufiger Proteaseinhibitoren als dies bei Ärztinnen zu beobachten ist. Nicht nur das Geschlecht selbst, sondern auch die aktuelle geschlechterspezifische Lebensphase kann Einfluss auf medizinische Entscheidungen ausüben. Zum Beispiel verschreiben Hausärztinnen mit menopausalen Beschwerden Patientinnen im Klimakterium deutlich häufiger hormonelle Ersatztherapien als ihre männliche Kollegen oder jüngeren Kolleginnen.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015.</ref>
 +
 
 +
<br>
 +
 
 +
[[Modul 1: Geschlecht und Medizin | Zurück zu Modul 1: Geschlecht und Medizin]]
  
 
==Literatur==
 
==Literatur==
Zeile 18: Zeile 30:
 
Julia Schreitmüller
 
Julia Schreitmüller
  
Zuletzt geändert: 2017-09-15 10:41:39
+
Zuletzt geändert: 2017-10-08 15:16:05

Aktuelle Version vom 8. Oktober 2017, 15:16 Uhr

Medizinische Versorgung ist nicht geschlechterneutral. Dabei nimmt nicht nur das Geschlecht der zu behandelnden Person Einfluss auf den Versorgungsprozess. Entscheidend kann auch sein, ob das jeweilige Fachpersonal weiblich oder männlich ist. Studien erkennen und bestätigen einen oft unbewussten „Gender Bias“: Zum Beispiel scheinen Patienten im Vergleich zu Patientinnen mit Typ-2-Diabetes signifikant seltener eine optimale Behandlung zur Vermeidung von möglichen Folgekomplikationen zu erhalten. Zudem betreuen Ärztinnen Patienten und Patientinnen mit Typ-2-Diabetes besser und betreiben intensiver prognostisch wichtiges Präventionsmanagement als Ärzte. Ärztinnen gelingt es besser als ihren männlichen Kollegen, den Blutzuckerspiegel und den Blutlipidspiegel zu senken.[1] Desweiteren geben Männer in Gegenwart von weiblichem Fachpersonal ein geringeres Schmerzlevel an als in Gegenwart von männlichen Versorgern. Sozial verankerte Geschlechterbilder („der starke Mann“) scheinen dabei eine Rolle zu spielen. Frauen werden bei ihren Schmerzäußerungen nicht durch das Geschlecht des Fachpersonals beeinflusst und stufen ihre Schmerzen generell höher ein als Männer.[2] Dabei ist die Frage berechtigt, inwiefern Schmerz tatsächlich typisch „weiblich“ ist und wie stark das soziale Geschlecht Einfluss auf die Bewertungsprozesse nimmt.[3]


Geschlechterspezifische Kommunikation[Bearbeiten]

Vor allem der Hausarzt oder die Hausärztin begleiten den Patienten/die Patientin häufig über viele Jahre und sind meist erste Anlauf- und Koordinationsstelle für die weitere medizinische Versorgung. Die Freiheit, den Hausarzt/die Hausärztin persönlich zu wählen (einschließlich der Wahl des Geschlechts), scheint besonders für Frauen entscheidend. Eine von vier Frauen bevorzugt es, das Geschlecht des Arztes/der Ärztin selbst zu wählen, wobei die Mehrheit eine Hausärztin bevorzugen würde. Je jünger die Patientinnen, desto eindeutiger ist diese Präferenz. Besonders bei sexuellen Problemen bevorzugen Frauen fast immer die Behandlung durch weibliches Fachpersonal. Diese geschlechtsspezifische Präferenz wird unter anderem mit einem patientInnenorientierten Kommunikationsstil erklärt, der vor allem von Ärztinnen praktiziert wird.[4] Das Geschlecht des Arztes/der Ärztin spielt also nicht nur bei den zu treffenden Entscheidungen, sondern auch bei der Kommunikation mit den Patienten und Patientinnen, eine wichtige Rolle. Während der Konsultation explorieren Ärztinnen die psychosozialen Umstände der Patienten und Patientinnen genauer, spenden dem emotionalen Zustand mehr Beachtung, treffen einen positiveren Ton, ermöglichen den Betroffenen eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und ermutigen zu mehr Teilhabe an medizinischen Entscheidungen. Ärzten wird dagegen häufig ein eher aufgabenorientierter Kommunikationsstil zugesprochen, der das Herausarbeiten der Krankheitsgeschichte, das Erklären von Diagnosen, und präzise Behandlungsstrategien beinhaltet. Ein Geschlechtereffekt in der Arzt/Ärztin-PatientIn-Beziehung lässt sich diesbezüglich aber nicht feststellen. 


Geschlechterspezifische Behandlung[Bearbeiten]

Männer und Frauen treffen zuweilen unterschiedliche Entscheidungen bezüglich Diagnose und Behandlung. Zum Beispiel führen Ärzte bei den gleichen Symptomen häufiger eine Rektaluntersuchung bei männlichen Patienten durch als ihre Kolleginnen. Dagegen nehmen Hausärztinnen im Vergleich zu Hausärzten bei Frauen eher eine Vaginaluntersuchung vor.[5] [6] Es scheinen psychologische Barrieren zu existieren, wenn es darum geht, Patienten oder Patientinnen des anderen Geschlechts sehr persönliche Fragen zu stellen oder intime Behandlungen vorzunehmen. Das führt zuweilen dazu, dass notwendige Behandlungen nicht stattfinden, Ärzte und Ärztinnen bezüglich dieser Untersuchungen weniger erfahren sind und seltener relevante Befunde gemacht werden können. 


Hausärzte und Internisten verschreiben häufiger und in höheren Dosen Psychopharmaka, Sedativa und Analgetika als ihre Kolleginnen (und Patientinnen bekommen diese häufiger verschrieben als Patienten).[7] [8] Auch interpretieren Ärzte weibliche Gesundheitsbeschwerden öfter als psychosomatisch als männliche Beschwerden. Zudem verschreiben sie Frauen in der Menopause häufiger hormonelle Ersatztherapien und HIV-positiven Patienten und Patientinnen häufiger Proteaseinhibitoren als dies bei Ärztinnen zu beobachten ist. Nicht nur das Geschlecht selbst, sondern auch die aktuelle geschlechterspezifische Lebensphase kann Einfluss auf medizinische Entscheidungen ausüben. Zum Beispiel verschreiben Hausärztinnen mit menopausalen Beschwerden Patientinnen im Klimakterium deutlich häufiger hormonelle Ersatztherapien als ihre männliche Kollegen oder jüngeren Kolleginnen.[9]


Zurück zu Modul 1: Geschlecht und Medizin

Literatur[Bearbeiten]

Klicken Sie auf "Ausklappen" um die Literaturverweise anzuzeigen.
  1. Gouni-Berthold I, Berthold HK, Mantzoros CS, Böhm M, Krone W. Sex disparities in the treatment and control of cardiovascular risk factors in type 2 diabetes. Diabetes care 2008; 31(7):1389–91.
  2. Aslaksen PM, Myrbakk IN, Høifødt RS, Flaten MA. The effect of experimenter gender on autonomic and subjective responses to pain stimuli. Pain 2007; 129(3):260–8.
  3. Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52.
  4. Janssen SM, Lagro-Janssen, Antoine L M. Physician's gender, communication style, patient preferences and patient satisfaction in gynecology and obstetrics: a systematic review. Patient education and counseling 2012; 89(2):221–6.
  5. Shires DA, Stange KC, Divine G, Ratliff S, Vashi R, Tai-Seale M et al. Prioritization of evidence-based preventive health services during periodic health examinations. American journal of preventive medicine 2012; 42(2):164–73.
  6. Lagro-Janssen, A L M. De geneeskunde is niet genderneutraal: invloed van de sekse van de dokter op de medische zorg. Nederlands tijdschrift voor geneeskunde 2008; 152(20):1141–5.
  7. Johnell K, Fastbom J. Gender and use of hypnotics or sedatives in old age: a nationwide register-based study. International journal of clinical pharmacy 2011; 33(5):788–93.
  8. van der Waals, F W, Mohrs J, Foets M. Sex differences among recipients of benzodiazepines in Dutch general practice. BMJ (Clinical research ed.) 1993; 307(6900):363–6.
  9. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015.

Lizenz[Bearbeiten]

Dieser Artikel ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. Den vollen Lizenzinhalt finden Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/legalcode

Autoren[Bearbeiten]

Julia Schreitmüller

Zuletzt geändert: 2017-10-08 15:16:05

Biologisches Geschlecht