Substanzgebrauchsstörungen/Einführungsartikel

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Version vom 9. März 2017, 09:39 Uhr von Julia (Diskussion | Beiträge)
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In Deutschland sind etwa 31 Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen in ihrem Leben mindestens einmal von irgendeiner Substanz abhängig.[1] Dabei gilt für die meisten Substanzen: Männer sind deutlich öfter als Frauen abhängig und konsumieren meist auch eine größere Menge.[2] Eine Ausnahme bildet die Medikamentenabhängigkeit: So ergibt sich zum Beispiel für Schmerzmittel, Schlafmittel und Beruhigungsmittel eine höhere Abhängigkeit für das weibliche Geschlecht.[3] Zudem gibt es Hinweise darauf, dass sich die Häufigkeit verschiedener Abhängigkeiten (insbesondere beim Rauchen) zwischen den Geschlechtern annähert: In jüngeren Generationen sind die Geschlechtsunterschiede am geringsten, in älteren Generationen am höchsten. Damit lässt sich ein kultureller Wandel vermuten, der mit einem erhöhten Substanzkonsum und -missbrauch insbesondere bei Frauen einhergeht.[4]

Obwohl Männer im Vergleich zu Frauen fast alle Drogen mehr und häufiger konsumieren und öfter Substanzgebrauchsstörungen aufweisen, sind es paradoxerweise Frauen, die eine Abhängigkeit schneller entwickeln und typische Phasen des Drogenkonsums (z. B. geringeres Einstiegsalter, früherer Eintritt in die Rehabilitation, kürzere Zeit der Drogenabstinenz) auch früher bzw. schneller durchlaufen.[5] Diese erhöhte Empfänglichkeit wird damit erklärt, dass Frauen durch die Aktivität des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen stärker von der positiven, also belohnenden Wirkung von Drogen betroffen sind.[6] Dementsprechend variiert auch die subjektive Wirkung von Drogen bei Frauen je nach Zyklusphase.[7] So steigt das Östrogen in der ersten Zyklusphase (der sogenannten Follikelphase) stark an, womit auch das Verlangen nach der jeweiligen Substanz deutlich zunimmt. Durch den hormonellen Einfluss in der zweiten Zyklusphase (der sogenannten Lutealphase) ist das gesteigerte Verlangen dann wieder gemindert. Auch die langfristige Einnahme der Antibabypille und der damit zusammenhängende Einfluss auf den natürlichen Hormonkreislauf stellt einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Abhängigkeit dar.[8] Bei Jungen sorgt während der Pubertät das männliche Geschlechtshormon Testosteron dafür, dass sie im Vergleich zu Mädchen oft impulsiver und interessierter an Aufregung versprechenden Ereignissen sind, was als ein Grund für höhere Abhängigkeitswerte angenommen wird.[9] Es ist jedoch wichtig, den Einfluss von Geschlechtshormonen nicht als isolierten Risikofaktor zu begreifen, sondern stets im Zusammenspiel mit sozialen und anderen biologischen Einflüssen zu sehen.[10][11]

Einige Medikamente, die zur Verringerung des Verlangens nach Drogen verschrieben werden, können je nach Geschlecht unterschiedlich wirksam sein. Ein solches Medikament ist Naltrexon. Es hat sich gezeigt, dass im Geschlechtervergleich dieselbe Dosis bei Frauen zu deutlichen Nebenwirkungen (z. B. Übelkeit) führen kann, während sie bei Männern gut verträglich ist.[12] Diese Nebenwirkungen können dann dazu führen, dass Naltrexon bei Frauen weniger effektiv wirkt als bei Männern. Eine Konsequenz sollte deshalb sein, bei der Verabreichung von Medikamenten Dosierungen zu verwenden, die an das Geschlecht oder zumindest an das Körpergewicht angepasst werden.[13]

Geschlechterunterschiede zeigen sich auch bei der Behandlung in Gruppentherapien. Männer scheinen dabei mehr von klaren Strukturen zu profitieren, wie sie z. B. bei den Anonymen Alkoholikern zu finden sind.[14] Für Frauen sind eher Gruppen hilfreich, in denen Emotionen bearbeitet werden und Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein oder Selbstwirksamkeit geübt werden. Es empfehlen sich dafür eher gleichgeschlechtliche Gruppen, da sie unter Frauen relevante Themen besser an- und besprechen können.[15]

Frauen und Männer scheinen sich in ihrer Motivation für den Drogenkonsum zu unterscheiden. Präventionsprogramme sollten deshalb genau hier ansetzen: Männer konsumieren Drogen eher aus Vergnügen, Frauen eher, um negative Gefühle (z. B. Ängstlichkeit, Depression oder Stress) mildern zu können.[16] Es empfehlen sich deshalb für Jungen und Männer Präventionsprogramme, in denen sinnvolle Alternativen zum Drogenkonsum vorgeschlagen werden und vor allem die negativen Konsequenzen besprochen werden. Mädchen und Frauen sollten besonders an gesunde und effektive Bewältigungsstrategien herangeführt werden. Damit eine erfolgreiche Prävention oder auch Behandlung von Substanzgebrauchsstörungen bei beiden Geschlechtern möglich ist, muss in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass auch Frauen betroffen sind und sich die Erkrankung bei Frauen anders als bei Männern auswirken kann. Bisher ist häufig noch eine Stigmatisierung abhängiger Frauen zu beobachten. Folge ist deshalb noch oft, dass betroffene Frauen eine spezialisierte Behandlung aus Schamgefühl oder Angst, verurteilt zu werden, nicht aufnehmen.[17]

Literatur[Bearbeiten]

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  1. Schmidt, C. O., Watzke, A. B., Schulz, A., Baumeister, S. E., Freyberger, H. J. & Grabe, H. J. (2013) Die Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen in Vorpommern. Welchen Einfluss haben frühere psychische Auffälligkeiten auf die Survey-Teilnahme und Prävalenzschätzungen? Ergebnisse der SHIP-Studie. Psychiatrische Praxis, 40, 192–199
  2. Pabst, A., Kraus, L., De Matos, E. G., & Piontek, D. (2013). Substanzkonsum und substanzbezogene Störungen in Deutschland im Jahr 2012. Sucht, 59(6), 321–331.
  3. Pabst, A., Kraus, L., De Matos, E. G., & Piontek, D. (2013). Substanzkonsum und substanzbezogene Störungen in Deutschland im Jahr 2012. Sucht, 59(6), 321–331.
  4. Kuhn, C. (2015). Emergence of sex differences in the development of substance use and abuse during adolescence. Pharmacology & Therapeutics, 153, 55–78.
  5. Bisagno, V., & Cadet, J. L. (2014). Stress, sex, and addiction: potential roles of corticotropinreleasingfactor, oxytocin, and arginine-vasopressin. Behavioural Pharmacology, 25(5-6), 445–457.
  6. Gillies, G. E., Virdee, K., McArthur, S., & Dalley, J. W. (2014). Sex-dependent diversity in ventral tegmental dopaminergic neurons and developmental programing: A molecular, cellular and behavioral analysis. Neuroscience, 282, 69–85.
  7. Becker, J. B., & Hu, M. (2008). Sex differences in drug abuse. Frontiers in Neuroendocrinology, 29(1), 36–47.
  8. Lenz, B., Müller, C. P., Stoessel, C., Sperling, W., Biermann, T., Hillemacher, T., … Kornhuber, J. (2012). Sex hormone activity in alcohol addiction: Integrating organizational and activational effects. Progress in Neurobiology, 96(1), 136–163.
  9. Shulman, E. P., Harden, K. P., Chein, J. M., & Steinberg, L. (2015). Sex differences in the developmental trajectories of impulse control and sensation-seeking from early adolescence to early adulthood. Journal of Youth and Adolescence, 44(1), 1–17.
  10. Lenz, B., Müller, C. P., Stoessel, C., Sperling, W., Biermann, T., Hillemacher, T., … Kornhuber, J. (2012). Sex hormone activity in alcohol addiction: Integrating organizational and activational effects. Progress in Neurobiology, 96(1), 136–163.
  11. Agabio, R., Campesi, I., Pisanu, C., Gessa, G. L., & Franconi, F. (2016). Sex differences in
    substance use disorders: focus on side effects. Addiction Biology, 21(5), 1030–1042.
  12. Roche, D. J. O., & King, A. C. (2015). Sex differences in acute hormonal and subjective response to naltrexone: The impact of menstrual cycle phase. Psychoneuroendocrinology, 52, 59–71.
  13. Agabio, R., Campesi, I., Pisanu, C., Gessa, G. L., & Franconi, F. (2016). Sex differences in substance use disorders: focus on side effects. Addiction Biology, 21(5), 1030–1042.
  14. Zenker, C. (2005). Sucht und Gender. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforsch. Gesundheitsschutz, 48(4), 469–476.
  15. Zenker, C. (2005). Sucht und Gender. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforsch. Gesundheitsschutz, 48(4), 469–476.
  16. Kuhn, C. (2015). Emergence of sex differences in the development of substance use and abuse during adolescence. Pharmacology & Therapeutics, 153, 55–78.
  17. Greenfield, S. F., Brooks, A. J., Gordon, S. M., Green, C. A., Kropp, F., McHugh, R. K., … Miele, G. M. (2007). Substance abuse treatment entry, retention, and outcome in women: a review of the literature. Drug and Alcohol Dependence, 86(1), 1–21.
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Zwanghaftes Bedürfnis bzw. unwiderstehlicher Drang nach einem bestimmten Stimulus (Reiz), z. B. einer chemischen Substanz (Droge).

Die erste Hälfte des Menstruationszyklus (erster bis c. a. vierzehnter Tag), während der die Follikel im Eierstock heranwachsen und vermehrt Östrogene produzieren, wodurch sich die Gebärmutterschleimhaut wieder aufbaut.

(oder Sekretionsphase) Die zweite Phase des weiblichen Zyklus, die unmittelbar auf den Eisprung folgt und mit dem Beginn der nächsten Menstruation endet (c. a. 15. bis 24. Zyklustag).

Zwanghaftes Bedürfnis bzw. unwiderstehlicher Drang nach einem bestimmen Stimulus (Reiz), z. B. einer chemischen Substanz (Droge).

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Soziales Geschlecht