Substanzgebrauchsstörungen/Einführungsartikel

In Deutschland sind etwa 31 Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen in ihrem Leben mindestens einmal von irgendeiner Substanz abhängig.[1] Dabei gilt für die meisten Substanzen: Männer sind deutlich öfter als Frauen abhängig und konsumieren meist auch eine größere Menge.[2] Eine Ausnahme bildet die Medikamentenabhängigkeit: So ergibt sich zum Beispiel für Schmerzmittel, Schlafmittel und Beruhigungsmittel eine höhere Abhängigkeit für das weibliche Geschlecht.[3] Zudem gibt es Hinweise darauf, dass sich die Häufigkeit verschiedener Abhängigkeiten (insbesondere beim Rauchen) zwischen den Geschlechtern annähert: In jüngeren Generationen sind die Geschlechtsunterschiede am geringsten, in älteren Generationen am höchsten. Damit lässt sich ein kultureller Wandel vermuten, der mit einem erhöhten Substanzkonsum und -missbrauch insbesondere bei Frauen einhergeht.[4]

Obwohl Männer im Vergleich zu Frauen fast alle Drogen mehr und häufiger konsumieren und öfter Substanzgebrauchsstörungen aufweisen, sind es paradoxerweise Frauen, die eine Abhängigkeit schneller entwickeln und typische Phasen des Drogenkonsums (z. B. geringeres Einstiegsalter, früherer Eintritt in die Rehabilitation, kürzere Zeit der Drogenabstinenz) auch früher bzw. schneller durchlaufen.[5] Diese erhöhte Empfänglichkeit wird damit erklärt, dass Frauen durch die Aktivität des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen stärker von der positiven, also belohnenden Wirkung von Drogen betroffen sind.[6] Dementsprechend variiert auch die subjektive Wirkung von Drogen bei Frauen je nach Zyklusphase.[7] So steigt das Östrogen in der ersten Zyklusphase (der sogenannten Follikelphase) stark an, womit auch das Verlangen nach der jeweiligen Substanz deutlich zunimmt. Durch den hormonellen Einfluss in der zweiten Zyklusphase (der sogenannten Lutealphase) ist das gesteigerte Verlangen dann wieder gemindert. Auch die langfristige Einnahme der Antibabypille und der damit zusammenhängende Einfluss auf den natürlichen Hormonkreislauf stellt einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Abhängigkeit dar.[8] Bei Jungen sorgt während der Pubertät das männliche Geschlechtshormon Testosteron dafür, dass sie im Vergleich zu Mädchen oft impulsiver und interessierter an Aufregung versprechenden Ereignissen sind, was als ein Grund für höhere Abhängigkeitswerte angenommen wird.[9] Es ist jedoch wichtig, den Einfluss von Geschlechtshormonen nicht als isolierten Risikofaktor zu begreifen, sondern stets im Zusammenspiel mit sozialen und anderen biologischen Einflüssen zu sehen.[10][11]

Ab dem Jugendalter erkranken Mädchen öfter als Jungen an einer Depression oder leiden unter verschiedenen Ängsten.[12][13] Bei Mädchen und Frauen dient der Drogenkonsum deshalb häufig dazu, negative Gefühle zu mildern.[14][15] Jungen und Männer scheinen dagegen häufiger aus Vergnügen zu konsumieren.

Einige Medikamente, die zur Verringerung des Verlangens nach Drogen verschrieben werden, können je nach Geschlecht unterschiedlich wirksam sein. Ein solches Medikament ist Naltrexon. Hier hat sich gezeigt, dass bei Frauen dieselbe Dosis zu mehr Nebenwirkungen (z. B. Übelkeit) führen kann, die bei Männern gut verträglich ist.[16] Diese Nebenwirkungen können dann dazu führen, dass Naltrexon bei Frauen weniger effektiv wirkt als bei Männern. Eine Konsequenz sollte deshalb sein, bei der Verabreichung von Medikamenten Dosierungen zu verwenden, die an das Geschlecht oder zumindest an das Körpergewicht angepasst sind.[17]

Ein weiteres Beispiel für Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei der Behandlung findet sich in Gruppentherapien. In Gruppentherapien scheinen Männer mehr durch klare Strukturen, wie sie z. B. bei den Anonymen Alkoholikern herrschen, zu profitieren.[18] In diesen wird nämlich die Akzeptanz der Abhängigkeit fokussiert, wohingegen Frauen für einen Behandlungserfolg Gruppen benötigen, in denen Emotionen bearbeitet werden und Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein oder Selbstwirksamkeit betont werden. Deshalb empfehlen sich für Frauen auch eher gleichgeschlechtliche Gruppen, da sie sich unter Frauen sicherer fühlen und für sie relevante Thematiken besser angesprochen werden.[19]

Grundsätzlich kann zur Prävention an der Motivation, Drogen zu konsumieren, angesetzt werden, die zwischen den Geschlechtern variiert: Männer konsumieren Drogen eher aus Spaß, Frauen hingegen, um negative Gefühle (z. B. Ängstlichkeit, Depression oder Stress) zu verdrängen.[20] Demgemäß empfehlen sich für Jungen/Männer Aufklärungen, in welchen sinnvolle Alternativen zur Gewinnung von Spaß vorgeschlagen werden und in denen die Konsequenzen des Substanzgebrauchs hervorgehoben werden, während Mädchen/Frauen vermehrt an gesunde, effektive Strategien zur Bewältigung ihrer Probleme herangeführt werden sollten.

Insgesamt ist es notwendig, in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Abhängigkeit vermehrt auch Frauen betrifft und sich diese bei ihnen anders auswirkt – d. h. es gilt, sich von dem „männlichen“ Standard zu distanzieren. Damit könnte bewirkt werden, dass Frauen Drogentherapien häufiger aufnehmen, ohne sich schämen zu müssen oder verurteilt zu werden.[21]

Literatur[Bearbeiten]

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  1. Schmidt, C. O., Watzke, A. B., Schulz, A., Baumeister, S. E., Freyberger, H. J. & Grabe, H. J. (2013) Die Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen in Vorpommern. Welchen Einfluss haben frühere psychische Auffälligkeiten auf die Survey-Teilnahme und Prävalenzschätzungen? Ergebnisse der SHIP-Studie. Psychiatrische Praxis, 40, 192–199
  2. Pabst, A., Kraus, L., De Matos, E. G., & Piontek, D. (2013). Substanzkonsum und substanzbezogene Störungen in Deutschland im Jahr 2012. Sucht, 59(6), 321–331.
  3. Pabst, A., Kraus, L., De Matos, E. G., & Piontek, D. (2013). Substanzkonsum und substanzbezogene Störungen in Deutschland im Jahr 2012. Sucht, 59(6), 321–331.
  4. Kuhn, C. (2015). Emergence of sex differences in the development of substance use and abuse during adolescence. Pharmacology & Therapeutics, 153, 55–78.
  5. Bisagno, V., & Cadet, J. L. (2014). Stress, sex, and addiction: potential roles of corticotropinreleasingfactor, oxytocin, and arginine-vasopressin. Behavioural Pharmacology, 25(5-6), 445–457.
  6. Gillies, G. E., Virdee, K., McArthur, S., & Dalley, J. W. (2014). Sex-dependent diversity in ventral tegmental dopaminergic neurons and developmental programing: A molecular, cellular and behavioral analysis. Neuroscience, 282, 69–85.
  7. Becker, J. B., & Hu, M. (2008). Sex differences in drug abuse. Frontiers in Neuroendocrinology, 29(1), 36–47.
  8. Lenz, B., Müller, C. P., Stoessel, C., Sperling, W., Biermann, T., Hillemacher, T., … Kornhuber, J. (2012). Sex hormone activity in alcohol addiction: Integrating organizational and activational effects. Progress in Neurobiology, 96(1), 136–163.
  9. Shulman, E. P., Harden, K. P., Chein, J. M., & Steinberg, L. (2015). Sex differences in the developmental trajectories of impulse control and sensation-seeking from early adolescence to early adulthood. Journal of Youth and Adolescence, 44(1), 1–17.
  10. Lenz, B., Müller, C. P., Stoessel, C., Sperling, W., Biermann, T., Hillemacher, T., … Kornhuber, J. (2012). Sex hormone activity in alcohol addiction: Integrating organizational and activational effects. Progress in Neurobiology, 96(1), 136–163.
  11. Agabio, R., Campesi, I., Pisanu, C., Gessa, G. L., & Franconi, F. (2016). Sex differences in
    substance use disorders: focus on side effects. Addiction Biology, 21(5), 1030–1042.
  12. Kuhn, C. (2015). Emergence of sex differences in the development of substance use and abuse during adolescence. Pharmacology & Therapeutics, 153, 55–78
  13. Latimer, W. W., Stone, A. L., Voight, A., Winters, K. C., & August, G. J. (2002). Gender differences in psychiatric comorbidity among adolescents with substance use disorders. Experimental and Clinical Psychopharmacology, 10(3), 310–315.
  14. Agabio, R., Campesi, I., Pisanu, C., Gessa, G. L., & Franconi, F. (2016). Sex differences in substance use disorders: focus on side effects. Addiction Biology, 21(5), 1030–1042
  15. Kuhn, C. (2015). Emergence of sex differences in the development of substance use and abuse during adolescence. Pharmacology & Therapeutics, 153, 55–78.
  16. Roche, D. J. O., & King, A. C. (2015). Sex differences in acute hormonal and subjective response to naltrexone: The impact of menstrual cycle phase. Psychoneuroendocrinology, 52, 59–71.
  17. Agabio, R., Campesi, I., Pisanu, C., Gessa, G. L., & Franconi, F. (2016). Sex differences in substance use disorders: focus on side effects. Addiction Biology, 21(5), 1030–1042.
  18. Zenker, C. (2005). Sucht und Gender. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforsch. Gesundheitsschutz, 48(4), 469–476.
  19. Zenker, C. (2005). Sucht und Gender. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforsch. Gesundheitsschutz, 48(4), 469–476.
  20. Kuhn, C. (2015). Emergence of sex differences in the development of substance use and abuse during adolescence. Pharmacology & Therapeutics, 153, 55–78.
  21. Greenfield, S. F., Brooks, A. J., Gordon, S. M., Green, C. A., Kropp, F., McHugh, R. K., … Miele, G. M. (2007). Substance abuse treatment entry, retention, and outcome in women: a review of the literature. Drug and Alcohol Dependence, 86(1), 1–21.
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Zwanghaftes Bedürfnis bzw. unwiderstehlicher Drang nach einem bestimmten Stimulus (Reiz), z. B. einer chemischen Substanz (Droge).

Die erste Hälfte des Menstruationszyklus (erster bis c. a. vierzehnter Tag), während der die Follikel im Eierstock heranwachsen und vermehrt Östrogene produzieren, wodurch sich die Gebärmutterschleimhaut wieder aufbaut.

(oder Sekretionsphase) Die zweite Phase des weiblichen Zyklus, die unmittelbar auf den Eisprung folgt und mit dem Beginn der nächsten Menstruation endet (c. a. 15. bis 24. Zyklustag).

Zwanghaftes Bedürfnis bzw. unwiderstehlicher Drang nach einem bestimmen Stimulus (Reiz), z. B. einer chemischen Substanz (Droge).

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