Somatoforme Störungen/Einführungsartikel

Der nachfolgende Artikel berücksichtigt Geschlechterunterschiede bei verschiedenen somatoformen Störungen. Einen geschlechterübergreifenden Überblick zu den Erkrankungen erhalten Sie in den AWMF-S3-Leitlinien zu nicht-spezifischen funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden

Epidemiologie[Bearbeiten]

Inzidenz/Prävalenz[Bearbeiten]

Somatoforme Erkrankungen weisen eine deutliche Geschlechterdifferenz hinsichtlich epidemiologischer Daten auf, generell höhere Prävalenzzahlen sind dabei beim weiblichen Geschlecht festzustellen: In  der Studie ''Gesundheit Erwachsener in Deutschland'' von 2014 ergaben sich 12-Monats-Prävalenzen von  1.7 Prozent bei Männern und 5.2 Prozent bei Frauen (18 bis 79 Jahre).[1] Ein Alterseffekt ist dabei besonders bei Männern zu beobachten: Während bei den 18- bis 35-jährigen nur drei Prozent an psychosomatischen Beschwerden leiden, sind es bei den 46- bis 65-jährigen bereits sieben Prozent.[2] Dass bei  Frauen das Alter einen geringeren Effekt auf die psychosomatische Symptomatik aufweist, ist vermutlich auf ein deutlich höheres Ausgangsniveau zurückzuführen. Detailliertere Angaben zum Einfluss von Alter und Geschlecht auf somatoforme Störungen sind ''Tabelle 1'' zu entnehmen.

Tabelle 1. Prävalenz somatoformer Störungen in Deutschland (Ein-Monats-Prävalenz). [Quelle: Wittchen et al., 1999]

Altersgruppe Prävalenz Frauen Prävalenz Männer Odds Ratio (w : m)
18-35 8.9  % 3.1 % 3.01
36-45 11.1 % 4.5 % 2.63
46-65 10.4 % 6.9 % 1.57
Gesamt 10 % 4.9 % 2.13

Wenngleich generell höhere   Prävalenzzahlen bei Frauen im Vergleich zu Männern festzustellen sind, zeigen sich die Geschlechterunterschiede in  den  einzelnen  diagnostischen  Kategorien jedoch  variabel. Dabei kann nicht bei jeder somatoformen Störung ein Geschlechtereffekt belegt werden.  In nachfolgender Tabelle (''Tabelle 2'') sind allgemeine Häufigkeiten sowie geschlechterspezifische Besonderheiten einzelner somatoformer Störungen ersichtlich.

Tabelle 2. Allgemeine und geschlechterspezifische Häufigkeiten einzelner somatoformer Störungen. [Quelle: Kampfhammer, 2005]

Somatoforme Störung Allgemeine Häufigkeit Geschlechterunterschiede
Somatisierungsstörung
  • Trotz häufigem Vorliegen von multiplen Symptomen, werden die Kriterien für eine Somatisierungsstörung nur selten voll erreicht (Prävalenz deutlich unter 1 Prozent).[3]
  • Betroffen sind nach DSM- und ICD-Kriterien deutlich häufiger Frauen mit einem Geschlechterverhältnis von bis zu 10-20 : 1 (w : m).[4]
  • Bei bestätigter Diagnose scheint bei beiden Geschlechtern ein ähnliches Symptommuster mit ähnlicher koexistenter Psychopathologie vorzuliegen.[5]
Dissoziative Störung
  • Seltene Erkrankung: Punktprävalenz < 0.5 Prozent [6]
  • Frauen überwiegen (besonders im stationären Setting) deutlich mit einem Geschlechterverhältnis von 5-10 : 1 (w : m).[7]
  • In bestimmten Kontexten (Militärdienst oder nach Arbeitsunfällen) erkranken Männer häufiger.[8]
Hypochondrie
  • In Allgemeinbevölkerung äußerst selten: 0.2 Prozent [9]
  • Hypochondrische Symptome und gesundheitsbezogene Sorgen deutlich höher: 6 Prozent [10]
  • Im medizinischen Primärsektor steigen die Prävalenzen an: > 1 Prozent [11]
  • Keine eindeutigen Geschlechterdifferenzen [12]

Körperdysmorphe Störung

  • In Allgemeinbevölkerung < 1 Prozent [13]
  • In dermatologischen und kosmetisch-chirurgischen Kontexten erhobene Raten geben Hinweis, dass die Störung möglicherweise zahlenmäßig unterschätzt wird.[14]
  • Keine eindeutige Geschlechterdifferenz [15]
Somatoforme Schmerzstörung
  • Lebenszeitprävalenz: etwa 12 Prozent (TACOS-Studie) [16]
  • Keine eindeutige Geschlechterdifferenz  [17]
Somatorforme autonome Stöurng
  • Konzeptuelle Schwierigkeiten in der Diagnose machen epidemiologische Einschätzung schwierig.[18]
  • Wahrscheinlich überwiegend Frauen [19]

Risikofaktoren und protektive Faktoren[Bearbeiten]

Somatisierungsprozesse werden von vielfältigen Faktoren beeinflusst. Eindimensionale Erklärungen für Geschlechterdifferenzen sind deshalb sehr unwahrscheinlich. Unterschiede in der Wahrnehmung, Interpretation und Kommunikation von Körperreizen, in der Schmerztoleranz, in der Entwicklung von Krankheits- bzw. Gesundheitskonzepten sowie der Sozialisation des Krankheitsverhaltens, in der Assoziation zu Angst und  Depression, in der Anzahl schwerwiegender Traumatisierungen und posttraumatischer Entwicklungen werden als mögliche Faktoren diskutiert.[20]

Klinik[Bearbeiten]

Symptome[Bearbeiten]

Betrachtet man die Beschwerden, die einen Patienten oder eine Patientin dazu motivieren, einen Arzt/eine Ärztin zu kontaktieren, scheinen zwischen den Geschlechtern mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zu bestehen. Jackson et al. (2003) stellen fest, dass Patienten und Patientinnen von vergleichbaren Symptomen berichten und nach einer ähnlichen Zeitspanne medizinische Hilfe aufsuchen. Es bestehen dabei auch keine Geschlechterunterschiede in der Dauer der Symptome, in der subjektiven Schwere der körperlichen Beeinträchtigung oder der empfundenen Funktionseinbußen. Jedoch berichten Patientinnen im Verlgleich zu Patienten häufiger von psychosozialen Belastungssituationen sowie einem höherem symptombezogenen Leidensdruck und weisen öfter komorbide psychische Störungen auf.[21]

Im Folgenden (''Tabelle 3'') wird konkreter auf die Körperdysmorphe Störung sowie die Schmerzstörung  eingegangen. Hier ergeben sich (anders als bei den übrigen somatoformen Störungen) Geschlechterdifferenzen in der Symptomatik.

Tabelle 3. Geschlechterdifferenzen in der Symptomatik der Körperdysmorphen Störung und der Schmerzstörung. [Quelle: Kampfhammer, 2005]

Somatoforme Störung Geschlechterdifferenz
Körperdysmorphe Störung PatientInnen mit einer körperdysmorphen Störung haben die überwertige Überzeugung, ein Körperteil sei verunstaltet, obwohl dies objektiv gesehen nicht der Fall ist. Das Gefühl, hässlich zu sein und deswegen von anderen verspottet zu werden erzeugt dabei übermäßiges Leid. Dabei beziehen Männer und Frauen diese Überzeugung soziokulturell bedingt meist auf unterschiedliche Körperregionen. Frauen äußern ihre körperdysmorphen Empfindungen eher bezüglich Lippen, Gesicht, Brüste, Hüften und Gewicht. Männer fokussieren öfter ihre Genitalien, ihre Muskulatur oder ihr Haupthaar.[22] Beispielsweise kann sich körperdysmorpher Leidensdruck bei Männern (mit der Überzeugung muskulärer Unzulänglichkeit) hinter exzessiven Body-Building verbergen (''body dysmorphia'').[23] Allgemein scheinen körperdysmorphe Störungen bei Frauen häufiger in einer operativen Modifikation zu enden, epochale Trends führen allerdings zu einer Annäherung von Männern und Frauen bezüglich der Entscheidung für plastisch-kosmetische Eingriffe.[24]
Anhaltende somatoforme Schmerzstörung Ein prominentes (entweder lokalisierbares oder generalisiertes), mindestens sechs Monate anhaltendes Schmerzsyndrom ohne (ausreichendes) organisches Korrelat bestimmt das Beschwerdebild einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung. Dabei dominieren Fibromyalgie, persistierende Unterleibsschmerzen und Spannungskopfschmerzen deutlich bei Frauen. Wichtige (und womöglich bedeutendere) Geschlechterdifferenzen weisen auch die hinter einer Schmerzstörung liegenden Somatisierungsprozesse auf: So zeigen Frauen bei der Darbietung von Schmerzreizen eine geringere Wahrnehmungsschwelle sowie Schmerztoleranz als Männer.[25]

Diagnostik[Bearbeiten]

In der primären Versorgung kann der Allgemeinarzt bzw. die Allgemeinärztin eine Schlüsselrolle einnehmen und stärker für Somatisierungssymptome, aber auch für somatisierende Ängst und Depressionen sensibilisiert werden. Psychiatrische Basiskenntnisse ebenso wie der Einsatz einfacher Screeninginstrumente können dabei wichtige Veränderungsvariablen darstellen.[26] Besonders bei Frauen mit wiederholten psychosomatischen Beschwerden besteht eine hohe Korrelation zu Depression und/oder Angststörungen, die es zu identifizieren gilt.[27]

Management von Patienten und Patientinnen[Bearbeiten]

Therapie[Bearbeiten]

Therapeutische Behandlungen sollten multimodal gestaltet werden. Wenngleich die grundlegende Bedeutung von Geschlecht und Sexualität dabei erkannt wird, ist in bisherigen Therapiestudien eine geschlechtersensible Dimension noch zu wenig berücksichtigt worden.[28]

Externe Links

AWMF-S3-Leitlinie: Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden

Literatur[Bearbeiten]

Klicken Sie auf "Ausklappen" um die Literaturverweise anzuzeigen.
  1. Jacobi F, Höfler M, Strehle J, Mack S, Gerschler A, Scholl L et al. Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). Der Nervenarzt 2014; 85(1):77–87.
  2. Wittchen, H.-U., Müller, N., Pfister, H., Winter, S., & Schmidtkunz, B. (1999). Affektive, somatoforme und Angststörungen in Deutschland. Erste Ergebnisse des bundesweiten Zusatzsurveys "Psychische Störungen". Das Gesundheitswesen, 61, 216-222.
  3. Kapfhammer, H. P. (2005). Geschlechtsdifferenzielle Perspektive auf somatoforme Störungen. Psychiatrie und Psychotherapie, 1(2), 63-74.
  4. Kapfhammer, H. P. (2005). Geschlechtsdifferenzielle Perspektive auf somatoforme Störungen. Psychiatrie und Psychotherapie, 1(2), 63-74.
  5. Golding JM, Smith GR, Kashner TM (1991) Does somatization disorder occur in  men?  Clinical  characteristics  of  women  and  men  with  multiple  unexplained somatic symptoms. Arch Gen Psychiatry 48: 231–235
  6. De Waal, M. W., Arnold, I. A., Eekhof, J. A., & Van Hemert, A. M. (2004). Somatoform disorders in general practice. The British Journal of Psychiatry, 184(6), 470-476.
  7. Kapfhammer HP, Dobmeier P, Rothenhäusler HB, Mayer C (1998 b) Artifizielle
    Störungen: Zwischen  Täuschung  und  Selbstschädigung. Nervenarzt  69:
    401–409
  8. Ford  CV  (1983)  Somatizing  disorders: Illness  as  a  way  of  life. Elsevier, New
    Yo r k
  9. Looper  KJ,  Kirmayer  LJ  (2001)  Hypochondriacal  concerns  in  a  community population. Psychol Med 31: 577–58
  10. Gureje  O,  Simon  GE,  Ustun  TB  et  al  (1997)  Somatization  in  cross-cultural
    perspective:  A  World  Health  Organization  study  in  primary  care. Am  J Psychiatry 154: 989–995
  11. Waal MWM de, Arnold IA, Eekhof JAH, Hemert AM van (2004) Somatoform disorders in general practice. Prevalence, functional impairment and comorbidity with anxiety and depressive disorders. Br J Psychiatry 184: 470–476
  12. Rief W, Hessel A, Brähler (2001) Somatization symptoms and hypochondriacal features in the general population. Psychosom Med 63: 595–602
  13. Otto  MW, Wilhelm  S, Cohen  LS  et  al  (2001)  Prevalence  of  body  dysmorphic disorder   in   a   community   sample   of   women.  Am   J   Psychiatry   158: 2061–2063
  14. Phillips  KA  (2000)  Body  dysmorphic  disorder: Diagnostic  controversies  and treatment challenges. Bull Menninger Clin 64: 18–35
  15. Phillips KA, Diaz SF (1997) Gender differences in body dysmorphic disorder. J Nerv Ment Dis 185: 570–577
  16. Meyer  C, Rumpf  HJ, Hapke  U  et  al  (2000)  Lebenszeitprävalenz  psychischer Störungen  in  der  erwachsenen  Allgemeinbevölkerung.  Nervenarzt  71:535–542
  17. Kapfhammer, H. P. (2005). Geschlechtsdifferenzielle Perspektive auf somatoforme Störungen. Psychiatrie und Psychotherapie, 1(2), 63-74.
  18. Kapfhammer HP (2003) Somatoforme Störungen. In: Möller HJ, Laux G, Kapfhammer
    HP (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie. 2. erweiterte Auflage. Springer, Berlin Heidelberg NewYork, 1372–1379
  19. Kapfhammer, H. P. (2005). Geschlechtsdifferenzielle Perspektive auf somatoforme Störungen. Psychiatrie und Psychotherapie, 1(2), 63-74.
  20. Kapfhammer, H. P. (2005). Geschlechtsdifferenzielle Perspektive auf somatoforme Störungen. Psychiatrie und Psychotherapie, 1(2), 63-74.
  21. Jackson  JL, Chamberlain  J, Kroenke  K  (2003)  Gender  and  symptoms  in  primary care practices. Psychosomatics 44: 359–366
  22. Perugi G, Akiskal HS, Gianotti D, Frare F, Di Vaio S, Cassano GB (1997) Genderrelated differences in body dysmorphic disorder (dysmorphophobia). J Nerv Ment Dis 185: 578–582
  23. Pope HG Jr, Gruber AJ,Mangweth B, Bureau B, deCol C, Jouvent R, Hudson JI (2000) Body image perception among men in three countries. Am J Psychiatry 157: 1297–1301
  24. Kapfhammer, H. P. (2005). Geschlechtsdifferenzielle Perspektive auf somatoforme Störungen. Psychiatrie und Psychotherapie, 1(2), 63-74.
  25. Kapfhammer, H. P. (2005). Geschlechtsdifferenzielle Perspektive auf somatoforme Störungen. Psychiatrie und Psychotherapie, 1(2), 63-74.
  26. Fink P, Rosendal M, Toft T (2002) Assessment and treatment of functional disorders in general practice: The extended reattribution and management model – an advanced educational program for nonpsychiatric doctors. Psychosomatics 43: 93–131
  27. Kapfhammer, H. P. (2005). Geschlechtsdifferenzielle Perspektive auf somatoforme Störungen. Psychiatrie und Psychotherapie, 1(2), 63-74.
  28. Kapfhammer, H. P. (2005). Geschlechtsdifferenzielle Perspektive auf somatoforme Störungen. Psychiatrie und Psychotherapie, 1(2), 63-74.

Lizenz[Bearbeiten]

Dieser Artikel ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. Den vollen Lizenzinhalt finden Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/legalcode

Autoren[Bearbeiten]

Daniel Zsebedits, Julia Schreitmüller

Zuletzt geändert: 2021-10-23 18:02:58

Ein Teilgebiet der Medizin, das die Verteilung von Krankheiten in einer Bevölkerung und die damit zusammenhängenden Variablen untersucht.

Die Anzahl neu aufgetretener Krankheitsfälle innerhalb einer definierten Population in einem bestimmten Zeitraum.

Die Häufigkeit einer Krankheit oder eines Symptoms in einer definierten Population zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Körperliche Beschwerden, für die keine oder nicht ausreichende organische Ursachen gefunden werden können.

Multilokuläres, funktionelles Schmerzsyndrom mit typischen schmerzhaften Druckpunkten, aber ohne Hinweise auf einen entzündlichen oder degenerativen Prozess.

Maß für den statistischen Zusammenhang zwischen zwei Datensätzen.

(lat.: deprimere = herunterdrücken) Psychische Erkrankung, die durch die Hauptsymptome gedrückte Stimmung, Verlust an Interessen bzw. an Freude und deutliche Antriebsminderung gekennzeichnet ist.

Soziales Geschlecht