Modul 1: Geschlecht und Medizin/Fachartikel


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Gendermedizin – Was ist das?[Bearbeiten]

Im Zuge eines individuengerechten Behandlungskonzeptes ergibt sich auch theoretische und praktische Relevanz für den Begriff der Gendermedizin: Geschlecht wird dabei nicht nur als ein individueller Risikofaktor für die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten eingeordnet, sondern nimmt zudem entscheidenden Einfluss auf den gesamten Behandlungsprozess. Der Begriff der Gendermedizin umfasst weniger eine eigene Fachdisziplin, als eine interdisziplinäre Perspektive, die den meisten Fachgebieten eine neue Dimension eröffnen kann und muss. Die geschlechtersensible Sichtweise dahinter ist eigentlich selbstverständlich: Frauen und Männer unterscheiden sich in vielem. Wichtig ist, dass diese Unterschiede bei weitem nicht auf anatomische und physiologische Primärmerkmale zu beschränken sind. Vielmehr gilt es, biologische und soziale Unterschiede von Geschlecht bezüglich Aspekten wie Disposition, Prävalenz oder auch Copingstrategien und Therapieadhärenz zu berücksichtigen, um adäquate Behandlungsmaßnahmen zu gewährleisten. Dabei kann sowohl das Geschlecht der Patientinnen und Patienten als auch das Geschlecht des medizinischen Fachpersonals Einfluss auf den Versorgungsprozess nehmen.[1]


Sex und Gender.png

Die englische Sprache ermöglicht (anders als der deutsche Ausdruck „Geschlecht“) eine begrifflich genaue Unterscheidung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht. Der Begriff „Gender“ beschreibt alle sozialen Aspekte von Geschlecht und nimmt damit Bezug auf geschlechterspezifische Rollenverteilung, die beeinflusst wird von Umweltfaktoren wie soziokulturelle Erwartungen und Erziehungsstrukturen. Dagegen werden biologische Faktoren von Geschlecht (u. a. Chromosomale Grundlage, Sexualhormone, Immunsystem oder Stoffwechsel) dem Begriff „Sex“ zugeordnet. Sexueller Dimorphismus umfasst dann das Auftreten von zwei deutlich verschiedenen Erscheinungsformen des gleichen Merkmales in männlichen und weiblichen Individuen der gleichen Art.[2]

Grafik 1. Interaktion von Sex und Gender
[Quelle: GenderMed-Wiki, nach: Kindler-Röhrborn & Pfleiderer (2012)]

Entscheidend ist, Sex und Gender keinesfalls als separierte Dimensionen zu begreifen. Vielmehr ergibt sich eine lebenslange Interaktion auf biologischer und sozialer Ebene, die für fast alle Krankheitsbilder eine Rolle spielt (vergleiche Grafik 1). Die Medizin steht vor der anspruchsvollen Aufgabe diese Interaktion biologischer und sozialer Geschlechtermerkmale in den Behandlungsprozess zu integrieren und dabei zusätzlich die Wechselwirkung zwischen Geschlechteraspekten und Krankheitsverlauf zu berücksichtigen. Zum Beispiel kann das jeweilige hormonelle Level die individuelle Stimmung und Wahrnehmung beeinflussen und depressive oder ängstliche Symptome fördern. Andererseits kann auch der emotionale Zustand Wahrnehmungsprozesse beeinflussen: Angst und Depression (bei Frauen deutlich häufiger als bei Männern) senken die individuelle Schmerzschwelle und erhöhen damit die subjektive Schmerzwahrnehmung.[3] Folglich wirken geschlechterspezifische biologische und soziale Faktoren in einer komplexen Weise zusammen und beeinflussen dabei Prävalenz, Schweregrad, Verlauf und Behandlungserfolg von Erkrankungen. Geschlecht sollte deshalb Grundlage einer modernen individualisierten Gesundheitsversorgung mit multidisziplinärer Zusammenarbeit sein.[4]

Entwicklung eines wissenschaftlichen Diskurses[Bearbeiten]

1998 wurde vom Statistischen Bundesamt der erste Gesundheitsbericht für Deutschland herausgegeben.[5] Dieser wies ein klares Defizit auf: Nur sehr wenige der aufbereiteten Daten wurden nach Geschlecht differenziert, obgleich die Frauengesundheitsforschung und -praxis bis zu diesem Zeitpunkt schon auf eine mehr als 20-jährige Tradition zurückschauen konnte. Die in diesem Rahmen erarbeiteten Ergebnisse hatten jedoch keinen Eingang in die allgemeine Gesundheitsberichtserstattung gefunden. Die geschlechtersensiblen Defizite in der Berichterstattung verstärkten den nationalen Diskurs rund um Geschlecht und Medizin und schon wenige Jahre später (im Jahr 2001) wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) der Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen herausgegeben. Diesem Bericht liegt ein bio-psycho-soziales Verständnis von Geschlecht und Gesundheit bzw. Krankheit zugrunde und er gilt damit bis heute als ein wichtiger Meilenstein der Gendermedizin:[6] Der deutsche Diskurs hatte nun Anschluss an die internationale Gesundheitspolitik gefunden und bereits 2002 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Region Europa eine Deklaration, die die Bedeutung von Geschlecht auf die Gesundheitsforschung hervorhob.[7] Obgleich die Gendermedizin gegenwärtig noch lange nicht ausreichend in die medizinische Theorie und Praxis implementiert wurde, hat sich dennoch seit 2002 das Themenfeld „Geschlecht und Gesundheit“ maßgeblich weiterentwickelt: Es findet nun eine Stärkung und Intensivierung der interdisziplinären Forschung statt ebenso wie eine systematische Aufschlüsselung der Kategorie Geschlecht. Die geschlechtersensible Gesundheitsberichterstattung und Versorgungspraxis hat sich enorm weiterentwickelt und dabei auch das Thema der Männergesundheit aufgegriffen.[8]

Detaillierte Information zu Entstehung und Entwicklung des wissenschaftlichen und politischen Diskurses rund um Gendermedizin erhalten Sie hier.

Gendermedizin über die Lebensspanne[Bearbeiten]

Eine patientInnenorientierte Versorgung beinhaltet, dass Symptome und Beschwerden in Relation zur individuellen Lebenssituation betrachtet werden müssen. Die jeweilige Lebenssituation unterscheidet sich nicht nur zwischen den einzelnen Individuen, sondern auch intraindividuell hinsichtlich der einzelnen Lebensphasen. Über die Lebensspanne hinweg unterscheiden sich Männer und Frauen bezüglich ihrer biologischen und sozialen Entwicklung und stehen nicht selten vor differenten gesundheitlichen Herausforderungen.

In der Kindheit und Jugend sind vor allem Aspekte wie Heranwachsen, Lernen und Identitätssuche entscheidend. Dabei verläuft das körperliche Wachstum bei Jungen langsamer und irregulärer als bei Mädchen. Jungen haben häufig Wachstumsschübe, während Mädchen stetiger wachsen. Ähnlich verläuft die emotionale und kognitive Entwicklung bei Jungen langsamer und irregulärer als bei Mädchen. Bezüglich der Sprachentwicklung liegen Jungen zwölf bis 18 Monate hinter Mädchen. Ein höher entwickelter Frontalkortex ermöglicht Mädchen eine bessere Impulskontrolle als Jungen.[9] Das Erwachsenenalter ist geprägt von Beziehungen, (eventuell) Familiengründung und der Partizipation am Berufsleben. Viele (geschlechterspezifischen) Gesundheitsprobleme können sich im Erwachsenenalter manifestieren. Dabei besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Integration und Gesundheit. Beispielsweise hat die Tatsache, dass Frauen eher unter gesundheitlichen Einschränkungen leiden und geringere subjektive Gesundheitswerte haben als Männer, einen negativen Einfluss auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt und anderen sozialen Gebieten.[10] Im Alter nehmen Gesundheit und Alltagsfunktionalität zunehmend ab und die Teilhabe an der Gesellschaft verändert sich. Obwohl Frauen durchschnittlich länger leben, verbringen sie genauso viele Jahre in guter Gesundheit wie Männer. Das heißt, während der Jahre, die Frauen länger leben, leiden sie häufig unter chronischen Krankheiten und berichten von einer geringen krankheitsbezogene Lebensqualität mit deutlichen Funktionseinschränkungen (siehe auch: Lebenserwartung).[11] Geschlechterspezifischer Kommunikationsstil kann die medizinische Versorgung (unter anderem) in der letzten Lebensphase maßgeblich beeinflussen und berechtigt die Frage, ob Frauen und Männer unterschiedlich sterben: Beispielsweise erkennen Patientinnen im Vergleich zu Patienten mit einer onkologischen Erkrankung im Endstadium deutlich häufiger, dass ihr Zustand terminal verläuft. Sie können dies zudem besser verbalisieren und sprechen mit Ihrem Arzt/ihrer Ärztin eher über ihre Prognose bzw. Lebenserwartung. Patienten in der gleichen Situation begreifen seltener, dass Heilung nicht mehr Behandlungsziel ist und haben allgemein ein weniger akkurates Krankheitsverständnis.[12]

Geschlechterrelevanz in der Gesundheitsversorgung[Bearbeiten]

Schon angesichts der hohen Gesundheitskosten sollte das Gesundheitssystem ein so offensichtliches Merkmal wie das Geschlecht von Patient oder Patientin sowie Arzt oder Ärztin bei Diagnose und Therapie nicht außenvorlassen. Leider achten Ärzte und Ärztinnen in ihrem Behandlungsalltag immer noch zu wenig auf geschlechtersensible Unterschiede. Folge ist, dass bei einer Vielzahl von Erkrankungen falsche Diagnosen gestellt werden und damit geeignete Therapien nicht eingeleitet werden können. Gravierende Konsequenz kann dann eine erhöhte Sterblichkeit sein.[13] Geschlechtersensibles Wissen sollte baldigst in das medizinische Lehrangebot, die ärztliche Praxis sowie die staatliche Gesundheitspolitik integriert werden und sich nicht nur auf frauenspezifische Gesundheitsaspekte oder männerspezifische Gesundheitsaspekte begrenzen.[14] Medizinische Versorgung ist nicht geschlechterneutral. Dabei nimmt nicht nur das Geschlecht der zu behandelnden Person Einfluss auf den Versorgungsprozess. Entscheidend kann auch sein, ob das jeweilige Fachpersonal weiblich oder männlich ist (siehe auch Geschlecht des Fachpersonals). Studien erkennen und bestätigen einen oft unbewussten Gender Bias, der sich auf das Geschlecht des Patienten/der Patientin und das Geschlecht des Arztes/der Ärztin sowie auf das Geschlechterverhältnis in der Behandlungssituation beziehen kann: Zum Beispiel scheinen Patienten mit Typ-2-Diabetes signifikant seltener eine optimale Behandlung zur Vermeidung von möglichen Folgekomplikationen zu erhalten als Patientinnen. Zudem betreuen Ärztinnen Patienten und Patientinnen mit Typ-2-Diabetes besser und betreiben intensiver prognostisch wichtiges Präventionsmanagement als Ärzte. Ärztinnen gelingt es besser als ihren männlichen Kollegen, den Blutzuckerspiegel und den Blutlipidspiegel zu senken.[15]

Gesundheitsverhalten[Bearbeiten]

Ein gesunder Lebensstil kann das Risiko zu erkranken reduzieren und deutlichen Einfluss auf die Ergebnisse einer Behandlung nehmen. Beeinflussende Faktoren sind dabei vor allem Rauchen, sportliche Betätigung, sicherer Sex, Alkoholkonsum und gesunde Ernährung.

Grafik 2. Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen in Deutschland
[Quelle: GenderMed-Wiki, nach: DAK-Gesundheitsreport (2016)]

Damit können Männer und Frauen aufgrund von bewussten Gesundheitsentscheidungen enormen Einfluss auf ihren gesundheitlichen Zustand ausüben und damit das Risiko senken, von Erkrankungen wie Diabetes mellitus, kardiovaskulären Erkrankungen oder Krebs betroffen zu sein. Lebensstil und gesundheitsbezogenes Verhalten unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern. Einer niederländischen Studie von 2013 zufolge, konsumieren Männer mehr Alkohol als Frauen, rauchen häufiger und sind deutlich öfter opioidabhängig. Hintergrund ist ein divergenter Umgang mit Genussmitteln.[16] Orientierend am aktuellen DAK-Gesundheitsreport (2016), stellt Grafik 2 Unterschiede im Gesundheitsverhalten zwischen den Geschlechtern dar.[17]

Frauen und Männer unterscheiden sich in ihren Einschätzungen bezüglich Gesundheit und Krankheit. Dabei scheint ein Geschlechterunterschied bezüglich der Wahrnehmung und Interpretation von Körperfunktionen zu bestehen. Zudem kommunizieren Patientinnen und Patienten verschieden und präsentieren bzw. erklären ihre Symptome in unterschiedlicher Weise (oder versäumen dies). Zum Beispiel sind Männer mehr als Frauen geneigt dazu, gesundheitliche Beschwerden (einschließlich psychischer Probleme) zu verleugnen oder eigene Lösungsversuche zu finden. Frauen berichten dagegen früher und häufiger von gesundheitlichen Problemen.[18] Auch scheint ein Geschlechterunterschied bezüglich der Bewältigung von Problemen (gesundheitsbezogenen und anderen). Daraus ergeben sich divergente Verhaltensweise bezüglich des Aufsuchens und der Inanspruchnahme professioneller Hilfe. Unklar dabei bleibt, ob Frauen zuweilen „übermäßigen“ Gebrauch von Gesundheitsangeboten machen (Frauen verursachen höhere Gesundheitskosten) oder ob Männer diese „ungenügend“ nutzen.

Patientinnen und Patienten äußern unterschiedliche Bedürfnisse bezüglich ihrer medizinischen Behandlung bzw. Betreuung. Beispielsweise ergab eine Studie von 2010, dass Frauen mit einer onkologischen Erkrankung stärker als erkrankte Männer besorgt sind bezüglich der Wartezeiten, des Verhaltens vom Pflegepersonal, der medizinischen Unterstützung und Beratung sowie der Kontinuierlichkeit der Betreuung. Sie sind aufmerksamer hinsichtlich ihres Krankheitszustandes, unterziehen sich häufiger notwendigen Untersuchungen und sind eher bereit Nachforschungen bezüglich potentieller onkologischer Symptome anzustellen.[19] Zudem nutzen 15.5 Millionen weibliche, aber nur 3.5 Millionen männliche Versicherte in Deutschland Angebote zur Krebsfrüherkennung. Die Einführung geschlechtersensibler Präventionsprogramme scheint damit dringend notwendig, um die Zielgruppe der Männer erreichen zu können. Unter anderen erweisen sich die in medizinischen Praxen ausgelegten Informationen über Vorsorgeuntersuchungen als problematisch. Aufgrund von sprachlichen Formulierungen und Bildmaterial scheinen sich Männer häufig nicht angesprochen zu fühlen. Zudem besuchen Männer im Vergleich zu Frauen seltener medizinische Praxen. Nötig sind offenbar andere Anreize, um Männer für ihre Gesundheit stärker zu sensibilisieren. Letztlich gilt es für Praktizierende im Gesundheitssystem zu berücksichtigen, auf welche Weise Frauen und Männer physische Beschwerden wahrnehmen, interpretieren und präsentieren. Dementsprechend lässt sich dann das medizinische Verhalten so ausrichten, dass die aktuell erforderliche (individuelle) Betreuung gewährleistet werden kann.[20]

Symptomatik[Bearbeiten]

Arthrose der Kniegelenke ist eher weiblich? Und Herzkreislauferkrankungen eher männlich? Stereotype Zuordnungen können eine adäquate Behandlung verhindern.
[Quelle: GenderMed-Wiki (2016)]

Das weibliche Geschlecht kann einen Risikofaktor bezüglich der (zu) spät gestellten Diagnose bestimmter Erkrankungen bilden.[21] Beispielsweise werden Diagnosen für einen Herzinfarkt [22] oder eine HIV-Erkrankung [23] bei Frauen erst zu einem sehr späten Zeitpunkt gestellt. Grund dafür ist unter anderen, dass diese Erkrankungen als „untypisch“ für das weibliche Geschlecht eingeordnet werden und Frauen deshalb nicht als wahrscheinliche Kandidatinnen gelten. Herzinfarkte werden immer noch häufig als „Männerkrankheit“ charakterisiert. Dabei ist oft nicht bekannt, dass sich die Symptome eines Herzinfarktes zwischen den Geschlechtern deutlich unterscheiden können. Während bei Männern charakteristische Symptome (z. B. Engegefühl in der Brust und ausstrahlender Schmerz in den Armen) auftreten, kann sich ein Herzinfarkt bei Frauen in Form eines schleichenden, unspezifischen Symptombeginns äußern: Dabei sind Schmerzen der Kiefergelenke und des Rückens sowie vasovagale Beschwerden (z. B. Schweißausbrüche, Übelkeit und Kurzamtigkeit) häufig.[24] Die Chancenungleichheit von Männern und Frauen hinsichtlich kardiologischer Behandlungen (z .B. werden Frauen mit akutem Infarkt circa 40 Minuten später ins Krankenhaus eingeliefert) wird durch statistische Daten zur Todesursachenklärung deutlich: So sterben mehr Frauen als Männer infolge einer Herzkreislauferkrankung, obgleich es sich doch eigentlich um eine klassische "Männerkrankheit" handelt.[25] [26]

Auch AIDS gilt immer noch häufig als typische Krankheit homosexueller Männer oder drogensüchtiger Personen. Dabei sind gegenwärtig über 50 Prozent der an AIDS Erkrankten weiblichen Geschlechts. Dem entgegen werden stereotyp weibliche Krankheiten wie Osteoporose (oft sind postmenopausale Frauen betroffen) bei Männern häufig übersehen und wenig erforscht (beispielsweise wurden häufig (junge) Frauen als Referenzgruppe für Knochendichte bei älteren Männern herangezogen).[27]

Intervention und Rehabilitation[Bearbeiten]

Immer noch häufig werden Frauen unter Berücksichtigung von Richtlinien, die auf Forschungen mit ausschließlich männlichen Probanden basieren, behandelt. Eine systematische Integration von Sex und Gender erfolgt bisher in keinem adäquaten Umfang. Aufgrund der Annahme, die Ergebnisse von Gesundheitsforschung seien geschlechterneutral, werden weibliche Versuchstiere häufig von grundlegenden Forschungen ausgeschlossen. Verzerrungen infolge von hormonellen Unterschieden (z. B. Menstruationszyklus) sollen vermieden werden. Im medizinischen Alltag können solche Forschungsdesigns für Patientinnen zu Konsequenzen wie späte oder inkorrekte Diagnosestellung, enormen Leidensdruck oder inadäquate medikamentöse Behandlung führen. Damit zusammenhängend entstehen Folgen wie unnötige Erkrankungen, steigende Gesundheitskosten und (im Extremfall) vermeidbare Todesfälle.[28] Rehabilitationsmaßnahmen bieten zuweilen geschlechtergetrennte Behandlungsprogramme an. Zum Beispiel fühlen sich adipöse Frauen gehemmt gemeinsam mit männlichen Teilnehmern Sport zu treiben und bevorzugen gleichgeschlechtliche Sportangebote. Männer haben durchschnittlich weniger Vorwissen bezüglich Ernährung und Gesundheit und brauchen daher eine basalere und ausführlichere Aufklärung als Frauen. Zudem können Männer sich bei psychologischen Gruppentherapien in der Gegenwart von ausschließlich männlichen Teilnehmern leichter und in höherem Maß öffnen als in geschlechtergemischten Gruppen.[29]

Gendermedizinische Forschung[Bearbeiten]

Die Entwicklung einer geschlechtersensiblen Gesundheitsversorgung erfordert ein Umdenken bezüglich wissenschaftlich-medizinischer Forschung. Aktuell beruht unser medizinisches Wissen noch hauptsächlich auf Basis des männlichen Organismus (männliche Probanden sowie männliche Versuchstiere). Beispielsweise ist noch heute bei 22 bis 42 Prozent der physiologischen, neurowissenschaftlichen und biologischen Studien das Geschlecht der Versuchstiere für die Rezipienten nicht ersichtlich.[30] Dabei soll die Forschung am männlichen Organismus vor allem Verzerrungen infolge von hormonellen Unterschieden vermeiden.[31] So fluktuiert das weibliche Hormonlevel unter anderem während des Menstruationszyklus und kann dann mit experimentellen Ergebnissen interagieren. Auch gilt es innerhalb der Zellforschung geschlechterspezifische Aspekte verstärkt zu untersuchen.[32] [33] Tatsächlich sind zelluläre Geschlechterunterschiede nicht nur auf hormonelle Ursachen zurückzuführen. So zeigen beispielsweise weibliche und männliche embryonale Neuronen noch vor der Stimulation mit Sexualhormonen Unterschiede in ihrer Stressreaktion.[34]

Der systematische Ausschluss weiblicher Organismen aus wissenschaftlichen Untersuchungen gilt nicht nur für Grundlagenforschung und Medikamentenstudien, sondern für die gesamte Bandbreite der medizinischen Gesundheitsversorgung (Ausnahme bilden frauenspezifische Gesundheitsaspekte). Aufgrund dessen kam und kommt es zu Fehldiagnosen und inkorrekter medikamentöser Dosierungen bei Frauen (basierend u. a. auf Unterschieden in Pharmakokinetik und Pharmakodynamik) mit zwangsläufig negativen Konsequenzen. Verstärkt geschlechtersensible Forschung am Menschen, am Tier und an Zellen ist somit dringend notwendig und scheint im Zuge individualisierter Medizin zunehmend in den wissenschaftlichen Fokus zu gelangen. Methodisches Vorgehen muss dabei Sex und Gender nicht nur separat von einander, sondern auch deren Interaktion berücksichtigen.[35]

Literatur[Bearbeiten]

Klicken Sie auf "Ausklappen" um die Literaturverweise anzuzeigen.

  1. Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52
  2. Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52
  3. Pfleiderer B, Ritzkat A, Pogatzki Zahn E. Sex and Gender effects in pain: Universitätsklinikum Münster, Institut für klinische Radiologie (AG "Cognition and Gender"), Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie; 2015
  4. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015
  5. Statistisches Bundesamt. Gesundheitsbericht für Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt; 1998.
  6. BMFSFJ - Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Bericht zur gesundheitlichen Lage von Frauen. Bonn: Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend; 2001.
  7. WHO Euro - WHO Regional Office for Europe. Mainstreaming gender equity in health: The need to move forward. Madrid Statement. Copenhagen; 2002.
  8. Kolip P, Hurrelmann K. Handbuch Geschlecht und Gesundheit: Männer und Frauen im Vergleich. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Bern: Hogrefe; 2016. (Programmbereich Gesundheit).
  9. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015
  10. Merens A, van den Brakel, M. Emancipatiemonitor 2014. Den Haag: SCP/CBS; 2014 Dec 16
  11. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015
  12. Fletcher K, Prigerson HG, Paulk E, Temel J, Finlay E, Marr L et al. Gender differences in the evolution of illness understanding among patients with advanced cancer. The journal of supportive oncology 2013; 11(3):126–32.
  13. Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52
  14. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015
  15. Gouni-Berthold I, Berthold HK, Mantzoros CS, Böhm M, Krone W. Sex disparities in the treatment and control of cardiovascular risk factors in type 2 diabetes. Diabetes care 2008; 31(7):1389–91.
  16. Visscher TL, Am Bakel, van Zantinge EM. Overgewicht samengevat. Volksgezondheid Toekomst Verkenning, Nationaal Kompas Volksgezondheid. Bilthoven: RIVM, Bilthoven: RIVM, http://www. nationaalkompas. nl (accessed 8 May 2014) 2013.
  17. DAK-Gesundheitsreport 2016: Warum Frauen und Männer anders krank sind; 2016. Available from: URL: http://www.dak.de/dak/gesundheit/DAK-Gesundheitsreport_2016-1783254.html.
  18. Gijsbers van Wijk, C M, Kolk AM. Sekseverschillen in gezondheidsbeleving. Nederlands tijdschrift voor geneeskunde 1997; 141(6):283–7.
  19. Wessels H, Graeff A de, Wynia K, Heus M de, Kruitwagen, Cas L J J, Woltjer, Gerda T G J et al. Gender-related needs and preferences in cancer care indicate the need for an individualized approach to cancer patients. The oncologist 2010; 15(6):648–55
  20. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015
  21. Mosca L, Banka CL, Benjamin EJ, Berra K, Bushnell C, Dolor RJ et al. Evidence-based guidelines for cardiovascular disease prevention in women: 2007 update. Journal of the American College of Cardiology 2007; 49(11):1230–50.
  22. Mosca L, Banka CL, Benjamin EJ, Berra K, Bushnell C, Dolor RJ et al. Evidence-based guidelines for cardiovascular disease prevention in women: 2007 update. Journal of the American College of Cardiology 2007; 49(11):1230–50.
  23. Sordo del Castillo, Luis, Ruiz-Pérez I, Olry de Labry Lima, Antonio. Biological, psychosocial, therapeutic and quality of life inequalities between HIV-positive men and women - a review from a gender perspective. AIDS reviews 2010; 12(2):113–20.
  24. Saner H. Manifestation und Verläufe der koronaren Herzkrankheit bei Männern und Frauen--Konsequenzen für Diagnose und Therapie. Therapeutische Umschau. Revue thérapeutique 2007; 64(6):305–10.
  25. Austria, S. (2007). Todesursachenstatistik. Download vom, 23, 2007.
  26. Hochleitner M. Gender Medicine: Ringvorlesung an der Medizinischen Universität Innsbruck. Wien: Facultas.wuv; 2008.
  27. Orwig DL, Chiles N, Jones M, Hochberg MC. Osteoporosis in men: update 2011. Rheumatic diseases clinics of North America 2011; 37(3):401-14, vi.
  28. Schiebinger L. Scientific research must take gender into account. Nature 2014; 507(7490):9.
  29. Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52
  30. Beery AK, Zucker I. Sex bias in neuroscience and biomedical research. Neuroscience & Biobehavioral Reviews 2011; 35(3):565–72.
  31. Becker JB, Arnold AP, Berkley KJ, Blaustein JD, Eckel LA, Hampson E et al. Strategies and Methods for Research on Sex Differences in Brain and Behavior. Endocrinology 2005; 146(4):1650–73.
  32. Pollitzer E. Biology: Cell sex matters. Nature 2013; 500(7460):23–4.
  33. Harreiter J, Thomas A, Kautzky-Willer A. Gendermedizin. In: Kolip P, Hurrelmann K, editors. Handbuch Geschlecht und Gesundheit: Männer und Frauen im Vergleich. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Bern: Hogrefe; 2016. p. 34–44 (Programmbereich Gesundheit).
  34. Du L, Bayir H, Lai Y, Zhang X, Kochanek PM, Watkins SC et al. Innate gender-based proclivity in response to cytotoxicity and programmed cell death pathway. The Journal of biological chemistry 2004; 279(37):38563–70.
  35. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015


Lehrmaterial[Bearbeiten]

Fallstudien[Bearbeiten]

Dias[Bearbeiten]

Videos[Bearbeiten]

Weiter zum Lehrmaterial

Veranlagung bzw. Anfälligkeit, an einer bestimmten Krankheit zu erkranken.

Die Häufigkeit einer Krankheit oder eines Symptoms in einer definierten Population zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Biologisches Geschlecht

Soziales Geschlecht

Die Einwirkung des Organismus auf ein eingenommenes Arzneimittel in Abhängigkeit von der Zeit.

Die Effekte des Arzneimittels am Zielort.