Modul 1: Geschlecht und Medizin/Fachartikel: Unterschied zwischen den Versionen

(Geschlechtersensible Medizin über die Lebensspanne)
 
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==Geschlechtersensible Medizin – Was ist das? ==
  
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Im Zuge eines individuengerechten Behandlungskonzeptes ergibt sich auch theoretische und praktische Relevanz f&uuml;r die geschlechtersensible Medizin: Geschlecht wird dabei nicht nur als ein individueller Risikofaktor f&uuml;r die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten eingeordnet, sondern nimmt zudem entscheidenden Einfluss auf den gesamten Behandlungsprozess. Geschlechtersensible Medizin umfasst weniger eine eigene Fachdisziplin, als eine interdisziplin&auml;re Perspektive, die den meisten Fachgebieten eine neue Dimension er&ouml;ffnen kann und muss. <strong>Die geschlechtersensible Medizin beschreibt eine interdisziplin&auml;re Betrachtungsweise der Humanmedizin, die den Einfluss des biologischen und psychosozialen/soziokulturellen Geschlechts auf Gesundheit und Krankheit ber&uuml;cksichtigt</strong>. Die geschlechtersensible Sichtweise dahinter ist eigentlich selbstverst&auml;ndlich: Frauen und M&auml;nner unterscheiden sich in vielem. Wichtig ist, dass diese Unterschiede bei weitem nicht auf anatomische und physiologische Prim&auml;rmerkmale zu beschr&auml;nken sind. Vielmehr gilt es, biologische und soziale Unterschiede von Geschlecht bez&uuml;glich Aspekten wie Disposition, Pr&auml;valenz oder auch Copingstrategien und Therapieadh&auml;renz zu ber&uuml;cksichtigen, um ad&auml;quate Behandlungsma&szlig;nahmen zu gew&auml;hrleisten. Dabei kann sowohl das Geschlecht der Patientinnen und Patienten als auch das Geschlecht des medizinischen Fachpersonals Einfluss auf den Versorgungsprozess nehmen.<ref>Kindler-R&ouml;hrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146&ndash;52</ref>
== Geschlechtersensible Medizin – Was ist das? ==
 
Im Zuge eines individuengerechten Behandlungskonzeptes ergibt sich auch theoretische und praktische Relevanz für die geschlechtersensible Medizin: Geschlecht wird dabei nicht nur als ein individueller Risikofaktor für die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten eingeordnet, sondern nimmt zudem entscheidenden Einfluss auf den gesamten Behandlungsprozess. Geschlechtersensible Medizin umfasst weniger eine eigene Fachdisziplin, als eine interdisziplinäre Perspektive, die den meisten Fachgebieten eine neue Dimension eröffnen kann und muss. Die geschlechtersensible Sichtweise dahinter ist eigentlich selbstverständlich: Frauen und Männer unterscheiden sich in vielem. Wichtig ist, dass diese Unterschiede bei weitem nicht auf anatomische und physiologische Primärmerkmale zu beschränken sind. Vielmehr gilt es, biologische und soziale Unterschiede von Geschlecht bezüglich Aspekten wie Disposition, Prävalenz oder auch Copingstrategien und Therapieadhärenz zu berücksichtigen, um adäquate Behandlungsmaßnahmen zu gewährleisten. Dabei kann sowohl das Geschlecht der Patientinnen und Patienten als auch das Geschlecht des medizinischen Fachpersonals Einfluss auf den Versorgungsprozess nehmen.<ref>Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52</ref>
 
  
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Die englische Sprache erm&ouml;glicht (anders als der deutsche Ausdruck &bdquo;Geschlecht&ldquo;) eine begrifflich genaue Unterscheidung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht. Der Begriff [[Das soziale Geschlecht (&bdquo;Gender&ldquo;)|&bdquo;Gender&ldquo;]] beschreibt alle sozialen Aspekte von Geschlecht und nimmt damit Bezug auf geschlechterspezifische Rollenverteilung, die beeinflusst wird von Umweltfaktoren wie soziokulturelle Erwartungen und Erziehungsstrukturen. Dagegen werden biologische Faktoren von Geschlecht (u. a. [[Chromosomale Grundlage: XX und XY|Chromosomale Grundlage]], [[Sexualhormone]], [[Immunsystem]] oder [[Stoffwechsel]]) dem Begriff &bdquo;[[Das biologische Geschlecht (&bdquo;Sex&ldquo;)|Sex]]&ldquo; zugeordnet. [[Sexueller Dimorphismus]] umfasst dann das Auftreten von zwei deutlich verschiedenen Erscheinungsformen des gleichen Merkmales in m&auml;nnlichen und weiblichen Individuen der gleichen Art.<ref>Kindler-R&ouml;hrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146&ndash;52</ref>
  
Die englische Sprache ermöglicht (anders als der deutsche Ausdruck „Geschlecht“) eine begrifflich genaue Unterscheidung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht. Der Begriff [[Das soziale Geschlecht („Gender“)|„Gender“]] beschreibt alle sozialen Aspekte von Geschlecht und nimmt damit Bezug auf geschlechterspezifische Rollenverteilung, die beeinflusst wird von Umweltfaktoren wie soziokulturelle Erwartungen und Erziehungsstrukturen. Dagegen werden biologische Faktoren von Geschlecht (u. a. [[Chromosomale Grundlage: XX und XY|Chromosomale Grundlage]], [[Sexualhormone]], [[Immunsystem]] oder [[Stoffwechsel]]) dem Begriff „[[Das biologische Geschlecht („Sex“)|Sex]]“ zugeordnet. [[Sexueller Dimorphismus]] umfasst dann das Auftreten von zwei deutlich verschiedenen Erscheinungsformen des gleichen Merkmales in männlichen und weiblichen Individuen der gleichen Art.<ref>Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52</ref>
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[[Datei:Interaktion Sex Gender.png|thumb|left|450px|<small>'''Grafik 1. Interaktion von Sex und Gender'''<br />
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[Quelle: GenderMed-Wiki, nach: Kindler-Röhrborn & Pfleiderer (2012)]</small>]]
 
Entscheidend ist, Sex und Gender keinesfalls als separierte Dimensionen zu begreifen. Vielmehr ergibt sich eine lebenslange Interaktion auf biologischer und sozialer Ebene, die für fast alle Krankheitsbilder eine Rolle spielt (vergleiche Grafik 1). Die Medizin steht vor der anspruchsvollen Aufgabe diese Interaktion biologischer und sozialer Geschlechtermerkmale in den Behandlungsprozess zu integrieren und dabei zusätzlich die Wechselwirkung zwischen Geschlechteraspekten und Krankheitsverlauf zu berücksichtigen. Zum Beispiel kann das jeweilige hormonelle Level die individuelle Stimmung und Wahrnehmung beeinflussen und depressive oder ängstliche Symptome fördern. Andererseits kann auch der emotionale Zustand Wahrnehmungsprozesse beeinflussen: [[Angststörungen | Angst]] und [[Depression | Depression]] (bei Frauen deutlich häufiger als bei Männern) senken die individuelle Schmerzschwelle und erhöhen damit die subjektive [[Schmerz | Schmerzwahrnehmung]].<ref>Pfleiderer B, Ritzkat A, Pogatzki Zahn E. Sex and Gender effects in pain: Universitätsklinikum Münster, Institut für klinische Radiologie (AG "Cognition and Gender"), Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie; 2015</ref> Folglich wirken geschlechterspezifische biologische und soziale Faktoren in einer komplexen Weise zusammen und beeinflussen dabei Prävalenz, Schweregrad, Verlauf und Behandlungserfolg von Erkrankungen. Geschlecht sollte deshalb Grundlage einer modernen [[Individualisierte Medizin | individualisierten Gesundheitsversorgung]] mit multidisziplinärer Zusammenarbeit sein.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref>
 
  
== Entwicklung eines wissenschaftlichen Diskurses==
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<strong>Grafik 1. Interaktion von&nbsp;Sex&nbsp;und&nbsp;Gender&nbsp;[Quelle: GenderMed-Wiki, nach: Kindler-R&ouml;hrborn &amp; Pfleiderer (2012)]</strong>
1998 wurde vom Statistischen Bundesamt der erste Gesundheitsbericht für Deutschland herausgegeben.<ref>Statistisches Bundesamt. Gesundheitsbericht für Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt; 1998.</ref> Dieser wies ein klares Defizit auf: Nur sehr wenige der aufbereiteten Daten wurden nach Geschlecht differenziert, obgleich die Frauengesundheitsforschung und -praxis bis zu diesem Zeitpunkt schon auf eine mehr als 20-jährige Tradition zurückschauen konnte. Die in diesem Rahmen erarbeiteten Ergebnisse hatten jedoch keinen Eingang in die allgemeine Gesundheitsberichtserstattung gefunden. Die geschlechtersensiblen Defizite in der Berichterstattung verstärkten den nationalen Diskurs rund um Geschlecht und Medizin und schon wenige Jahre später (im Jahr 2001) wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) der ''Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen'' herausgegeben. Diesem Bericht liegt ein bio-psycho-soziales Verständnis von Geschlecht und Gesundheit bzw. Krankheit zugrunde und er gilt damit bis heute als ein wichtiger Meilenstein der geschlechtersensiblen Medizin:<ref>BMFSFJ - Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Bericht zur gesundheitlichen Lage von Frauen. Bonn: Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend; 2001.</ref> Der deutsche Diskurs hatte nun Anschluss an die internationale Gesundheitspolitik gefunden und bereits 2002 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Region Europa eine Deklaration, die die Bedeutung von Geschlecht auf die Gesundheitsforschung hervorhob.<ref>WHO Euro - WHO Regional Office for Europe. Mainstreaming gender equity in health: The need to move forward. Madrid Statement. Copenhagen; 2002.</ref> Obgleich die geschlechtersensible Medizin gegenwärtig noch lange nicht ausreichend in die medizinische Theorie und Praxis implementiert wurde, hat sich dennoch seit 2002 das Themenfeld „Geschlecht und Gesundheit“ maßgeblich weiterentwickelt: Es findet nun eine Stärkung und Intensivierung der interdisziplinären Forschung statt ebenso wie eine systematische Aufschlüsselung der Kategorie Geschlecht. Die geschlechtersensible Gesundheitsberichterstattung und Versorgungspraxis hat sich enorm weiterentwickelt und dabei auch das Thema der [[Männerspezifische Gesundheitsaspekte | Männergesundheit]] aufgegriffen.<ref>Kolip P, Hurrelmann K. Handbuch Geschlecht und Gesundheit: Männer und Frauen im Vergleich. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Bern: Hogrefe; 2016. (Programmbereich Gesundheit).</ref>
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Entscheidend ist, Sex und Gender keinesfalls als separierte Dimensionen zu begreifen. Vielmehr ergibt sich eine lebenslange Interaktion auf biologischer und sozialer Ebene, die f&uuml;r fast alle Krankheitsbilder eine Rolle spielt (vergleiche Grafik 1). Die Medizin steht vor der anspruchsvollen Aufgabe diese Interaktion biologischer und sozialer Geschlechtermerkmale in den Behandlungsprozess zu integrieren und dabei zus&auml;tzlich die Wechselwirkung zwischen Geschlechteraspekten und Krankheitsverlauf zu ber&uuml;cksichtigen. Zum Beispiel kann das jeweilige hormonelle Level die individuelle Stimmung und Wahrnehmung beeinflussen und depressive oder &auml;ngstliche Symptome f&ouml;rdern. Andererseits kann auch der emotionale Zustand Wahrnehmungsprozesse beeinflussen: [[Angstst&ouml;rungen | Angst]] und [[Depression | Depression]] (bei Frauen deutlich h&auml;ufiger als bei M&auml;nnern) senken die individuelle Schmerzschwelle und erh&ouml;hen damit die subjektive [[Schmerz | Schmerzwahrnehmung]].<ref>Pfleiderer B, Ritzkat A, Pogatzki Zahn E. Sex and Gender effects in pain: Universit&auml;tsklinikum M&uuml;nster, Institut f&uuml;r klinische Radiologie (AG &quot;Cognition and Gender&quot;), Klinik f&uuml;r An&auml;sthesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie; 2015</ref>&nbsp;Folglich wirken geschlechterspezifische biologische und soziale Faktoren in einer komplexen Weise zusammen und beeinflussen dabei Pr&auml;valenz, Schweregrad, Verlauf und Behandlungserfolg von Erkrankungen. Geschlecht sollte deshalb Grundlage einer modernen [[Individualisierte Medizin/Fachartikel | individualisierten Gesundheitsversorgung]] mit multidisziplin&auml;rer Zusammenarbeit sein.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref>
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==Entwicklung eines wissenschaftlichen Diskurses==
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1998 wurde vom Statistischen Bundesamt der erste Gesundheitsbericht f&uuml;r Deutschland herausgegeben.<ref>Statistisches Bundesamt. Gesundheitsbericht f&uuml;r Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt; 1998.</ref>&nbsp;Dieser wies ein klares Defizit auf: Nur sehr wenige der aufbereiteten Daten wurden nach Geschlecht differenziert, obgleich die Frauengesundheitsforschung und -praxis bis zu diesem Zeitpunkt schon auf eine mehr als 20-j&auml;hrige Tradition zur&uuml;ckschauen konnte. Die in diesem Rahmen erarbeiteten Ergebnisse hatten jedoch keinen Eingang in die allgemeine Gesundheitsberichtserstattung gefunden. Die geschlechtersensiblen Defizite in der Berichterstattung verst&auml;rkten den nationalen Diskurs rund um Geschlecht und Medizin und schon wenige Jahre sp&auml;ter (im Jahr 2001) wurde vom Bundesministerium f&uuml;r Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) der &#39;&#39;Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen&#39;&#39; herausgegeben. Diesem Bericht liegt ein bio-psycho-soziales Verst&auml;ndnis von Geschlecht und Gesundheit bzw. Krankheit zugrunde und er gilt damit bis heute als ein wichtiger Meilenstein der geschlechtersensiblen Medizin:<ref>BMFSFJ - Bundesministerium f&uuml;r Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Bericht zur gesundheitlichen Lage von Frauen. Bonn: Bundesministerium f&uuml;r Familien, Senioren, Frauen und Jugend; 2001.</ref>&nbsp;Der deutsche Diskurs hatte nun Anschluss an die internationale Gesundheitspolitik gefunden und bereits 2002 ver&ouml;ffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Region Europa eine Deklaration, die die Bedeutung von Geschlecht auf die Gesundheitsforschung hervorhob.<ref>WHO Euro - WHO Regional Office for Europe. Mainstreaming gender equity in health: The need to move forward. Madrid Statement. Copenhagen; 2002.</ref>&nbsp;Obgleich die geschlechtersensible Medizin gegenw&auml;rtig noch lange nicht ausreichend in die medizinische Theorie und Praxis implementiert wurde, hat sich dennoch seit 2002 das Themenfeld &bdquo;Geschlecht und Gesundheit&ldquo; ma&szlig;geblich weiterentwickelt: Es findet nun eine St&auml;rkung und Intensivierung der interdisziplin&auml;ren Forschung statt ebenso wie &nbsp;eine systematische Aufschl&uuml;sselung der Kategorie Geschlecht. Die geschlechtersensible Gesundheitsberichterstattung und Versorgungspraxis hat sich enorm weiterentwickelt und dabei auch das Thema der [[M&auml;nnerspezifische Gesundheitsaspekte | M&auml;nnergesundheit]] aufgegriffen.<ref>Kolip P, Hurrelmann K. Handbuch Geschlecht und Gesundheit: M&auml;nner und Frauen im Vergleich. 2., vollst. &uuml;berarb. und erw. Aufl. Bern: Hogrefe; 2016. (Programmbereich Gesundheit).</ref>
  
 
Detaillierte Information zu Entstehung und Entwicklung des wissenschaftlichen und politischen Diskurses rund um Geschlecht und Medizin erhalten Sie [[Geschlechtersensible Medizin - politischer und wissenschaftlicher Diskurs | hier]].
 
Detaillierte Information zu Entstehung und Entwicklung des wissenschaftlichen und politischen Diskurses rund um Geschlecht und Medizin erhalten Sie [[Geschlechtersensible Medizin - politischer und wissenschaftlicher Diskurs | hier]].
  
== Geschlechtersensible Medizin über die Lebensspanne ==
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==Geschlechtersensible Medizin &uuml;ber die Lebensspanne==
Eine patientInnenorientierte Versorgung beinhaltet, dass Symptome und Beschwerden in Relation zur individuellen Lebenssituation betrachtet werden müssen. Die jeweilige Lebenssituation unterscheidet sich nicht nur zwischen den einzelnen Individuen, sondern auch intraindividuell hinsichtlich der einzelnen Lebensphasen. Über die Lebensspanne hinweg unterscheiden sich Männer und Frauen bezüglich ihrer biologischen und sozialen Entwicklung und stehen nicht selten vor differenten gesundheitlichen Herausforderungen.
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Eine patientInnenorientierte Versorgung beinhaltet, dass Symptome und Beschwerden in Relation zur individuellen Lebenssituation betrachtet werden m&uuml;ssen. Die jeweilige Lebenssituation unterscheidet sich nicht nur zwischen den einzelnen Individuen, sondern auch intraindividuell hinsichtlich der einzelnen Lebensphasen. &Uuml;ber die Lebensspanne hinweg unterscheiden sich M&auml;nner und Frauen bez&uuml;glich ihrer biologischen und sozialen Entwicklung und stehen nicht selten vor differenten gesundheitlichen Herausforderungen.
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In der [[Kindheit und Jugend]] sind vor allem Aspekte wie Heranwachsen, Lernen und Identit&auml;tssuche entscheidend. Dabei verl&auml;uft das k&ouml;rperliche Wachstum bei Jungen langsamer und irregul&auml;rer als bei M&auml;dchen. Jungen haben h&auml;ufig Wachstumssch&uuml;be, w&auml;hrend M&auml;dchen stetiger wachsen. &Auml;hnlich verl&auml;uft die emotionale und kognitive Entwicklung bei Jungen langsamer und irregul&auml;rer als bei M&auml;dchen. Bez&uuml;glich der Sprachentwicklung liegen Jungen zw&ouml;lf bis 18 Monate hinter M&auml;dchen. Ein h&ouml;her entwickelter Frontalkortex erm&ouml;glicht M&auml;dchen eine bessere Impulskontrolle als Jungen.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref>&nbsp;Das [[Erwachsenenalter und soziale Partizipation|Erwachsenenalter]] ist gepr&auml;gt von Beziehungen, (eventuell) Familiengr&uuml;ndung und der Partizipation am Berufsleben. Viele (geschlechterspezifischen) Gesundheitsprobleme k&ouml;nnen sich im Erwachsenenalter manifestieren. Dabei besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Integration und Gesundheit. Beispielsweise hat die Tatsache, dass Frauen eher unter gesundheitlichen Einschr&auml;nkungen leiden und geringere subjektive Gesundheitswerte haben als M&auml;nner, einen negativen Einfluss auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt und anderen sozialen Gebieten.<ref>Merens A, van den Brakel, M. Emancipatiemonitor 2014. Den Haag: SCP/CBS; 2014 Dec 16</ref>&nbsp;Im [[Altersmedizin|Alter]] nehmen Gesundheit und Alltagsfunktionalit&auml;t zunehmend ab und die Teilhabe an der Gesellschaft ver&auml;ndert sich. Obwohl Frauen durchschnittlich l&auml;nger leben, verbringen sie genauso viele Jahre in guter Gesundheit wie M&auml;nner. Das hei&szlig;t, w&auml;hrend der Jahre, die Frauen l&auml;nger leben, leiden sie h&auml;ufig unter chronischen Krankheiten und berichten von einer geringen krankheitsbezogene Lebensqualit&auml;t mit deutlichen Funktionseinschr&auml;nkungen (siehe auch: [[Lebenserwartung/Fachartikel| Lebenserwartung]]).<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref>&nbsp;Geschlechterspezifischer Kommunikationsstil kann die medizinische Versorgung (unter anderem) in der letzten Lebensphase ma&szlig;geblich beeinflussen und berechtigt die Frage, ob Frauen und M&auml;nner unterschiedlich [[Geschlechterspezifische Kommunikation in der Palliativversorgung | sterben]]: Beispielsweise erkennen Patientinnen im Vergleich zu Patienten mit einer onkologischen Erkrankung im Endstadium deutlich h&auml;ufiger, dass ihr Zustand terminal verl&auml;uft. Sie k&ouml;nnen dies zudem besser verbalisieren und sprechen mit Ihrem Arzt/ihrer &Auml;rztin eher &uuml;ber ihre Prognose bzw. [[Lebenserwartung/Fachartikel | Lebenserwartung]]. Patienten in der gleichen Situation begreifen seltener, dass Heilung nicht mehr Behandlungsziel ist und haben allgemein ein weniger akkurates Krankheitsverst&auml;ndnis.<ref>Fletcher K, Prigerson HG, Paulk E, Temel J, Finlay E, Marr L et al. Gender differences in the evolution of illness understanding among patients with advanced cancer. The journal of supportive oncology 2013; 11(3):126&ndash;32.</ref>
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==Geschlechterrelevanz in der Gesundheitsversorgung==
  
In der [[Kindheit und Jugend]] sind vor allem Aspekte wie Heranwachsen, Lernen und Identitätssuche entscheidend. Dabei verläuft das körperliche Wachstum bei Jungen langsamer und irregulärer als bei Mädchen. Jungen haben häufig Wachstumsschübe, während Mädchen stetiger wachsen. Ähnlich verläuft die emotionale und kognitive Entwicklung bei Jungen langsamer und irregulärer als bei Mädchen. Bezüglich der Sprachentwicklung liegen Jungen zwölf bis 18 Monate hinter Mädchen. Ein höher entwickelter Frontalkortex ermöglicht Mädchen eine bessere Impulskontrolle als Jungen.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref> Das [[Erwachsenenalter und soziale Partizipation|Erwachsenenalter]] ist geprägt von Beziehungen, (eventuell) Familiengründung und der Partizipation am Berufsleben. Viele (geschlechterspezifischen) Gesundheitsprobleme können sich im Erwachsenenalter manifestieren. Dabei besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Integration und Gesundheit. Beispielsweise hat die Tatsache, dass Frauen eher unter gesundheitlichen Einschränkungen leiden und geringere subjektive Gesundheitswerte haben als Männer, einen negativen Einfluss auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt und anderen sozialen Gebieten.<ref>Merens A, van den Brakel, M. Emancipatiemonitor 2014. Den Haag: SCP/CBS; 2014 Dec 16</ref> Im [[Altersmedizin|Alter]] nehmen Gesundheit und Alltagsfunktionalität zunehmend ab und die Teilhabe an der Gesellschaft verändert sich. Obwohl Frauen durchschnittlich länger leben, verbringen sie genauso viele Jahre in guter Gesundheit wie Männer. Das heißt, während der Jahre, die Frauen länger leben, leiden sie häufig unter chronischen Krankheiten und berichten von einer geringen krankheitsbezogene Lebensqualität mit deutlichen Funktionseinschränkungen (siehe auch: [[Lebenserwartung/Fachartikel| Lebenserwartung]]).<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref> Geschlechterspezifischer Kommunikationsstil kann die medizinische Versorgung (unter anderem) in der letzten Lebensphase maßgeblich beeinflussen und berechtigt die Frage, ob Frauen und Männer unterschiedlich [[Geschlechterspezifische Kommunikation in der Palliativversorgung | sterben]]: Beispielsweise erkennen Patientinnen im Vergleich zu Patienten mit einer onkologischen Erkrankung im Endstadium deutlich häufiger, dass ihr Zustand terminal verläuft. Sie können dies zudem besser verbalisieren und sprechen mit Ihrem Arzt/ihrer Ärztin eher über ihre Prognose bzw. [[Lebenserwartung/Fachartikel | Lebenserwartung]]. Patienten in der gleichen Situation begreifen seltener, dass Heilung nicht mehr Behandlungsziel ist und haben allgemein ein weniger akkurates Krankheitsverständnis.<ref>Fletcher K, Prigerson HG, Paulk E, Temel J, Finlay E, Marr L et al. Gender differences in the evolution of illness understanding among patients with advanced cancer. The journal of supportive oncology 2013; 11(3):126–32.</ref>
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Schon angesichts der hohen Gesundheitskosten sollte das Gesundheitssystem ein so offensichtliches Merkmal wie das Geschlecht von Patient oder Patientin sowie Arzt oder &Auml;rztin bei Diagnose und Therapie nicht au&szlig;envorlassen. Leider achten &Auml;rzte und &Auml;rztinnen in ihrem Behandlungsalltag immer noch zu wenig auf geschlechtersensible Unterschiede. Folge ist, dass bei einer Vielzahl von Erkrankungen falsche Diagnosen gestellt werden und damit geeignete Therapien nicht eingeleitet werden k&ouml;nnen. Gravierende Konsequenz kann dann eine erh&ouml;hte Sterblichkeit sein.<ref>Kindler-R&ouml;hrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146&ndash;52</ref>&nbsp;Geschlechtersensibles Wissen sollte baldigst in das medizinische Lehrangebot, die &auml;rztliche Praxis sowie die staatliche Gesundheitspolitik integriert werden und sich nicht nur auf [[frauenspezifische Gesundheitsaspekte]] oder [[m&auml;nnerspezifische Gesundheitsaspekte]] begrenzen.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref>&nbsp;Medizinische Versorgung ist nicht geschlechterneutral. Dabei nimmt nicht nur das Geschlecht der zu behandelnden Person Einfluss auf den Versorgungsprozess. Entscheidend kann auch sein, ob das jeweilige Fachpersonal weiblich oder m&auml;nnlich ist (siehe auch [[Geschlecht des Fachpersonals/Fachartikel | Geschlecht des Fachpersonals]]). Studien erkennen und best&auml;tigen einen oft unbewussten [[Gender Bias | &#39;&#39;Gender Bias&#39;&#39;]], der sich auf das Geschlecht des Patienten/der Patientin und das Geschlecht des Arztes/der &Auml;rztin sowie auf das Geschlechterverh&auml;ltnis in der Behandlungssituation beziehen kann: Zum Beispiel scheinen Patienten mit Typ-2-Diabetes signifikant seltener eine optimale Behandlung zur Vermeidung von m&ouml;glichen Folgekomplikationen zu erhalten als Patientinnen. Zudem betreuen &Auml;rztinnen Patienten und Patientinnen mit Typ-2-Diabetes besser und betreiben intensiver prognostisch wichtiges Pr&auml;ventionsmanagement als &Auml;rzte. &Auml;rztinnen gelingt es besser als ihren m&auml;nnlichen Kollegen, den Blutzuckerspiegel und den Blutlipidspiegel zu senken.<ref>Gouni-Berthold I, Berthold HK, Mantzoros CS, B&ouml;hm M, Krone W. Sex disparities in the treatment and control of cardiovascular risk factors in type 2 diabetes. Diabetes care 2008; 31(7):1389&ndash;91.</ref>
  
== Geschlechterrelevanz in der Gesundheitsversorgung ==
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===Gesundheitsverhalten===
Schon angesichts der hohen Gesundheitskosten sollte das Gesundheitssystem ein so offensichtliches Merkmal wie das Geschlecht von Patient oder Patientin sowie Arzt oder Ärztin bei Diagnose und Therapie nicht außenvorlassen. Leider achten Ärzte und Ärztinnen in ihrem Behandlungsalltag immer noch zu wenig auf geschlechtersensible Unterschiede. Folge ist, dass bei einer Vielzahl von Erkrankungen falsche Diagnosen gestellt werden und damit geeignete Therapien nicht eingeleitet werden können. Gravierende Konsequenz kann dann eine erhöhte Sterblichkeit sein.<ref>Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52</ref> Geschlechtersensibles Wissen sollte baldigst in das medizinische Lehrangebot, die ärztliche Praxis sowie die staatliche Gesundheitspolitik integriert werden und sich nicht nur auf [[frauenspezifische Gesundheitsaspekte]] oder [[männerspezifische Gesundheitsaspekte]] begrenzen.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref> Medizinische Versorgung ist nicht geschlechterneutral. Dabei nimmt nicht nur das Geschlecht der zu behandelnden Person Einfluss auf den Versorgungsprozess. Entscheidend kann auch sein, ob das jeweilige Fachpersonal weiblich oder männlich ist (siehe auch [[Geschlecht des Fachpersonals]]). Studien erkennen und bestätigen einen oft unbewussten [[Gender Bias | ''Gender Bias'']], der sich auf das Geschlecht des Patienten/der Patientin und das Geschlecht des Arztes/der Ärztin sowie auf das Geschlechterverhältnis in der Behandlungssituation beziehen kann: Zum Beispiel scheinen Patienten mit Typ-2-Diabetes signifikant seltener eine optimale Behandlung zur Vermeidung von möglichen Folgekomplikationen zu erhalten als Patientinnen. Zudem betreuen Ärztinnen Patienten und Patientinnen mit Typ-2-Diabetes besser und betreiben intensiver prognostisch wichtiges Präventionsmanagement als Ärzte. Ärztinnen gelingt es besser als ihren männlichen Kollegen, den Blutzuckerspiegel und den Blutlipidspiegel zu senken.<ref> Gouni-Berthold I, Berthold HK, Mantzoros CS, Böhm M, Krone W. Sex disparities in the treatment and control of cardiovascular risk factors in type 2 diabetes. Diabetes care 2008; 31(7):1389–91.</ref>
 
=== Gesundheitsverhalten ===
 
Ein gesunder Lebensstil kann das Risiko zu erkranken reduzieren und deutlichen Einfluss auf die Ergebnisse einer Behandlung nehmen. Beeinflussende Faktoren sind dabei vor allem Rauchen, sportliche Betätigung, sicherer Geschlechtsverkehr, Alkoholkonsum und gesunde Ernährung.
 
  
[[Datei:Gesundheitsverhalten Männer Frauen.png|thumb|left|600px|<small>'''Grafik 2. Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen in Deutschland'''<br />
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Ein gesunder Lebensstil kann das Risiko zu erkranken reduzieren und deutlichen Einfluss auf die Ergebnisse einer Behandlung nehmen. Beeinflussende Faktoren sind dabei vor allem Rauchen, sportliche Bet&auml;tigung, sicherer Geschlechtsverkehr, Alkoholkonsum und gesunde Ern&auml;hrung.&nbsp;
[Quelle: GenderMed-Wiki, nach:  DAK-Gesundheitsreport (2016)]</small>]]
 
Damit können Männer und Frauen aufgrund von bewussten Gesundheitsentscheidungen enormen Einfluss auf ihren gesundheitlichen Zustand ausüben und das Risiko senken, von Erkrankungen wie Diabetes mellitus, kardiovaskulären Erkrankungen oder Krebs betroffen zu sein. Lebensstil und gesundheitsbezogenes Verhalten unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern. Einer niederländischen Studie von 2013 zufolge, konsumieren Männer mehr Alkohol als Frauen, rauchen häufiger und sind deutlich öfter opioidabhängig. Hintergrund ist ein divergenter Umgang mit [[Gebrauch von Genussmitteln|Genussmitteln]].<ref>Visscher TL, Am Bakel, van Zantinge EM. Overgewicht samengevat. Volksgezondheid Toekomst Verkenning, Nationaal Kompas Volksgezondheid. Bilthoven: RIVM, Bilthoven: RIVM, http://www. nationaalkompas. nl (accessed 8 May 2014) 2013. </ref> Orientierend am aktuellen DAK-Gesundheitsreport (2016), stellt Grafik 2 Unterschiede im Gesundheitsverhalten zwischen den Geschlechtern dar.<ref>DAK-Gesundheitsreport 2016: Warum Frauen und Männer anders krank sind; 2016. Available from: URL: http://www.dak.de/dak/gesundheit/DAK-Gesundheitsreport_2016-1783254.html.</ref><br />
 
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Frauen und Männer unterscheiden sich in ihren Einschätzungen bezüglich Gesundheit und Krankheit. Dabei scheint ein Geschlechterunterschied bezüglich der Wahrnehmung und Interpretation von Körperfunktionen zu bestehen.  Zudem kommunizieren Patientinnen und Patienten verschieden und präsentieren bzw. erklären ihre Symptome in unterschiedlicher Weise (oder versäumen dies). Zum Beispiel sind Männer mehr als Frauen geneigt dazu, gesundheitliche Beschwerden (einschließlich psychischer Probleme) zu verleugnen oder eigene Lösungsversuche zu finden. Frauen berichten dagegen früher und häufiger von gesundheitlichen Problemen.<ref>Gijsbers van Wijk, C M, Kolk AM. Sekseverschillen in gezondheidsbeleving. Nederlands tijdschrift voor geneeskunde 1997; 141(6):283–7.</ref> Auch scheint ein Geschlechterunterschied bezüglich der Bewältigung von Problemen (gesundheitsbezogenen und anderen) zu bestehen. Daraus ergeben sich divergente Verhaltensweise bezüglich des Aufsuchens und der [[Inanspruchnahme professioneller Hilfe]]. Unklar dabei bleibt, ob Frauen zuweilen „übermäßigen“ Gebrauch von Gesundheitsangeboten machen (Frauen verursachen höhere Gesundheitskosten) oder ob Männer diese „ungenügend“ nutzen.
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<strong>[[File:6173e6377c6b0.png|600px|class=img-responsive]]</strong>
  
Patientinnen und Patienten äußern unterschiedliche Bedürfnisse bezüglich ihrer medizinischen Behandlung bzw. Betreuung.  Beispielsweise ergab eine Studie von 2010, dass Frauen mit einer onkologischen Erkrankung stärker als erkrankte Männer besorgt sind bezüglich der Wartezeiten, des Verhaltens vom Pflegepersonal, der medizinischen Unterstützung und Beratung sowie der Kontinuierlichkeit der Betreuung. Sie sind aufmerksamer hinsichtlich ihres Krankheitszustandes, unterziehen sich häufiger notwendigen Untersuchungen und sind eher bereit Nachforschungen bezüglich potentieller onkologischer Symptome anzustellen.<ref>Wessels H, Graeff A de, Wynia K, Heus M de, Kruitwagen, Cas L J J, Woltjer, Gerda T G J et al. Gender-related needs and preferences in cancer care indicate the need for an individualized approach to cancer patients. The oncologist 2010; 15(6):648–55</ref> Zudem nutzen 15.5 Millionen weibliche, aber nur 3.5 Millionen männliche Versicherte in Deutschland Angebote zur Krebsfrüherkennung. Die Einführung geschlechtersensibler Präventionsprogramme scheint damit dringend notwendig, um die Zielgruppe der Männer erreichen zu können. Unter anderen erweisen sich die in medizinischen Praxen ausgelegten Informationen über Vorsorgeuntersuchungen als problematisch. Aufgrund von sprachlichen Formulierungen und Bildmaterial scheinen sich Männer häufig nicht angesprochen zu fühlen. Zudem besuchen Männer im Vergleich zu Frauen seltener medizinische Praxen. Nötig sind offenbar andere Anreize, um Männer für ihre Gesundheit stärker zu sensibilisieren. Letztlich gilt es für Praktizierende im Gesundheitssystem zu berücksichtigen, auf welche Weise Frauen und Männer physische Beschwerden wahrnehmen, interpretieren und präsentieren. Dementsprechend lässt sich dann das medizinische Verhalten so ausrichten, dass die aktuell erforderliche (individuelle) Betreuung gewährleistet werden kann.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref>
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<strong>Grafik 2. Gesundheitsverhalten von M&auml;nnern und Frauen in Deutschland [Quelle: GenderMed-Wiki, nach: &nbsp;DAK-Gesundheitsreport (2016)]</strong>
  
=== Symptomatik ===
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Damit k&ouml;nnen M&auml;nner und Frauen aufgrund von bewussten Gesundheitsentscheidungen enormen Einfluss auf ihren gesundheitlichen Zustand aus&uuml;ben und das Risiko senken, von Erkrankungen wie Diabetes mellitus, kardiovaskul&auml;ren Erkrankungen oder Krebs betroffen zu sein. Lebensstil und gesundheitsbezogenes Verhalten unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern. Einer niederl&auml;ndischen Studie von 2013 zufolge, konsumieren M&auml;nner mehr Alkohol als Frauen, rauchen h&auml;ufiger und sind deutlich &ouml;fter opioidabh&auml;ngig. Hintergrund ist ein divergenter Umgang mit [[Gebrauch von Genussmitteln|Genussmitteln]].<ref>Visscher TL, Am Bakel, van Zantinge EM. Overgewicht samengevat. Volksgezondheid Toekomst Verkenning, Nationaal Kompas Volksgezondheid. Bilthoven: RIVM, Bilthoven: RIVM, http://www. nationaalkompas. nl (accessed 8 May 2014) 2013.</ref>&nbsp;Orientierend am aktuellen DAK-Gesundheitsreport (2016), stellt Grafik 2 Unterschiede im Gesundheitsverhalten zwischen den Geschlechtern dar.<ref>DAK-Gesundheitsreport 2016: Warum Frauen und M&auml;nner anders krank sind; 2016. Available from: URL: http://www.dak.de/dak/gesundheit/DAK-Gesundheitsreport_2016-1783254.html.</ref>
  
[[Datei:Geschlecht Medizin Bild.png|thumb|right|320px|<small>'''Arthrose der Kniegelenke ist eher weiblich? Und Herzkreislauferkrankungen eher männlich? Stereotype Zuordnungen können eine adäquate Behandlung verhindern.'''<br />
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Frauen und M&auml;nner unterscheiden sich in ihren Einsch&auml;tzungen bez&uuml;glich Gesundheit und Krankheit. Dabei scheint ein Geschlechterunterschied bez&uuml;glich der Wahrnehmung und Interpretation von K&ouml;rperfunktionen zu bestehen. &nbsp;Zudem kommunizieren Patientinnen und Patienten verschieden und pr&auml;sentieren bzw. erkl&auml;ren ihre Symptome in unterschiedlicher Weise (oder vers&auml;umen dies). Zum Beispiel sind M&auml;nner mehr als Frauen geneigt dazu, gesundheitliche Beschwerden (einschlie&szlig;lich psychischer Probleme) zu verleugnen oder eigene L&ouml;sungsversuche zu finden. Frauen berichten dagegen fr&uuml;her und h&auml;ufiger von gesundheitlichen Problemen.<ref>Gijsbers van Wijk, C M, Kolk AM. Sekseverschillen in gezondheidsbeleving. Nederlands tijdschrift voor geneeskunde 1997; 141(6):283&ndash;7.</ref>&nbsp;Auch scheint ein Geschlechterunterschied bez&uuml;glich der Bew&auml;ltigung von Problemen (gesundheitsbezogenen und anderen) zu bestehen. Daraus ergeben sich divergente Verhaltensweise bez&uuml;glich des Aufsuchens und der [[Inanspruchnahme professioneller Hilfe/Fachartikel|Inanspruchnahme professioneller Hilfe]]. Unklar dabei bleibt, ob Frauen zuweilen &bdquo;&uuml;berm&auml;&szlig;igen&ldquo; Gebrauch von Gesundheitsangeboten machen (Frauen verursachen h&ouml;here Gesundheitskosten) oder ob M&auml;nner diese &bdquo;ungen&uuml;gend&ldquo; nutzen.&nbsp;
[Quelle: GenderMed-Wiki (2016)]</small>]]
 
Das weibliche Geschlecht kann einen Risikofaktor bezüglich der (zu) spät gestellten Diagnose bestimmter Erkrankungen bilden.<ref> Mosca L, Banka CL, Benjamin EJ, Berra K, Bushnell C, Dolor RJ et al. Evidence-based guidelines for cardiovascular disease prevention in women: 2007 update. Journal of the American College of Cardiology 2007; 49(11):1230–50.</ref> Beispielsweise werden Diagnosen für einen Herzinfarkt <ref> Mosca L, Banka CL, Benjamin EJ, Berra K, Bushnell C, Dolor RJ et al. Evidence-based guidelines for cardiovascular disease prevention in women: 2007 update. Journal of the American College of Cardiology 2007; 49(11):1230–50.</ref> oder eine HIV-Erkrankung <ref> Sordo del Castillo, Luis, Ruiz-Pérez I, Olry de Labry Lima, Antonio. Biological, psychosocial, therapeutic and quality of life inequalities between HIV-positive men and women - a review from a gender perspective. AIDS reviews 2010; 12(2):113–20.</ref> bei Frauen erst zu einem sehr späten Zeitpunkt gestellt. Grund dafür ist unter anderen, dass diese Erkrankungen als „untypisch“ für das weibliche Geschlecht eingeordnet werden und Frauen deshalb nicht als wahrscheinliche Kandidatinnen gelten. Herzinfarkte werden immer noch häufig als „Männerkrankheit“ charakterisiert. Dabei ist oft nicht bekannt, dass  sich die Symptome eines Herzinfarktes zwischen den Geschlechtern deutlich unterscheiden können. Während bei Männern charakteristische Symptome (z. B. Engegefühl in der Brust und ausstrahlender Schmerz in den Armen) auftreten, kann sich ein Herzinfarkt bei Frauen in Form eines schleichenden, unspezifischen Symptombeginns äußern: Dabei sind Schmerzen der Kiefergelenke und des Rückens sowie vasovagale Beschwerden (z. B. Schweißausbrüche, Übelkeit und Kurzatmigkeit) häufig.<ref>Saner H. Manifestation und Verläufe der koronaren Herzkrankheit bei Männern und Frauen--Konsequenzen für Diagnose und Therapie. Therapeutische Umschau. Revue thérapeutique 2007; 64(6):305–10.</ref> Die Chancenungleichheit von Männern und Frauen hinsichtlich kardiologischer Behandlungen (z .B. werden Frauen mit akutem Infarkt circa 40 Minuten später ins Krankenhaus eingeliefert) wird durch statistische Daten zur Todesursachenklärung deutlich: So sterben mehr Frauen als Männer infolge einer Herzkreislauferkrankung, obgleich es sich doch eigentlich um eine klassische "Männerkrankheit" handelt.<ref>Austria, S. (2007). Todesursachenstatistik. Download vom, 23, 2007.</ref> <ref>Hochleitner M. Gender Medicine: Ringvorlesung an der Medizinischen Universität Innsbruck. Wien: Facultas.wuv; 2008.</ref>
 
  
Auch AIDS gilt immer noch häufig als typische Krankheit homosexueller Männer oder drogensüchtiger Personen. Dabei sind gegenwärtig über 50 Prozent der an AIDS Erkrankten weiblichen Geschlechts. Dem entgegen werden stereotyp weibliche Krankheiten wie Osteoporose (oft sind postmenopausale Frauen betroffen) bei Männern häufig übersehen und wenig erforscht (beispielsweise wurden häufig (junge) Frauen als Referenzgruppe für Knochendichte bei älteren Männern herangezogen).<ref> Orwig DL, Chiles N, Jones M, Hochberg MC. Osteoporosis in men: update 2011. Rheumatic diseases clinics of North America 2011; 37(3):401-14, vi.</ref><br />
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Patientinnen und Patienten &auml;u&szlig;ern unterschiedliche Bed&uuml;rfnisse bez&uuml;glich ihrer medizinischen Behandlung bzw. Betreuung. &nbsp;Beispielsweise ergab eine Studie von 2010, dass Frauen mit einer onkologischen Erkrankung st&auml;rker als erkrankte M&auml;nner besorgt sind bez&uuml;glich der Wartezeiten, des Verhaltens vom Pflegepersonal, der medizinischen Unterst&uuml;tzung und Beratung sowie der Kontinuierlichkeit der Betreuung. Sie sind aufmerksamer hinsichtlich ihres Krankheitszustandes, unterziehen sich h&auml;ufiger notwendigen Untersuchungen und sind eher bereit Nachforschungen bez&uuml;glich potentieller onkologischer Symptome anzustellen.<ref>Wessels H, Graeff A de, Wynia K, Heus M de, Kruitwagen, Cas L J J, Woltjer, Gerda T G J et al. Gender-related needs and preferences in cancer care indicate the need for an individualized approach to cancer patients. The oncologist 2010; 15(6):648&ndash;55</ref>&nbsp;Zudem nutzen 15.5 Millionen weibliche, aber nur 3.5 Millionen m&auml;nnliche Versicherte in Deutschland Angebote zur Krebsfr&uuml;herkennung. Die Einf&uuml;hrung geschlechtersensibler Pr&auml;ventionsprogramme scheint damit dringend notwendig, um die Zielgruppe der M&auml;nner erreichen zu k&ouml;nnen. Unter anderen erweisen sich die in medizinischen Praxen ausgelegten Informationen &uuml;ber Vorsorgeuntersuchungen als problematisch. Aufgrund von sprachlichen Formulierungen und Bildmaterial scheinen sich M&auml;nner h&auml;ufig nicht angesprochen zu f&uuml;hlen. Zudem besuchen M&auml;nner im Vergleich zu Frauen seltener medizinische Praxen. N&ouml;tig sind offenbar andere Anreize, um M&auml;nner f&uuml;r ihre Gesundheit st&auml;rker zu sensibilisieren. Letztlich gilt es f&uuml;r Praktizierende im Gesundheitssystem zu ber&uuml;cksichtigen, auf welche Weise Frauen und M&auml;nner physische Beschwerden wahrnehmen, interpretieren und pr&auml;sentieren. Dementsprechend l&auml;sst sich dann das medizinische Verhalten so ausrichten, dass die aktuell erforderliche (individuelle) Betreuung gew&auml;hrleistet werden kann.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref>
  
=== Intervention und Rehabilitation ===
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===Symptomatik===
Immer noch häufig werden Frauen unter Berücksichtigung von Richtlinien, die auf Forschungen mit ausschließlich männlichen Probanden basieren, behandelt. Eine systematische Integration von Sex und Gender erfolgt bisher in keinem adäquaten Umfang. Aufgrund der Annahme, die Ergebnisse von Gesundheitsforschung seien geschlechterneutral, werden weibliche Versuchstiere häufig von grundlegenden Forschungen ausgeschlossen. Verzerrungen infolge von hormonellen Unterschieden (z. B. Menstruationszyklus) sollen vermieden werden. Im medizinischen Alltag können solche Forschungsdesigns für Patientinnen zu Konsequenzen wie späte oder inkorrekte Diagnosestellung, enormen Leidensdruck oder inadäquate [[Medikamentöse Behandlung und Nebenwirkungen|medikamentöse Behandlung]] führen. Damit zusammenhängend entstehen Folgen wie unnötige Erkrankungen, steigende Gesundheitskosten und (im Extremfall) vermeidbare Todesfälle.<ref>Schiebinger L. Scientific research must take gender into account. Nature 2014; 507(7490):9.</ref> Rehabilitationsmaßnahmen bieten zuweilen geschlechtergetrennte Behandlungsprogramme an. Zum Beispiel fühlen sich adipöse Frauen gehemmt gemeinsam mit männlichen Teilnehmern Sport zu treiben und bevorzugen gleichgeschlechtliche Sportangebote. Männer haben durchschnittlich weniger Vorwissen bezüglich Ernährung und Gesundheit und brauchen daher eine basalere und ausführlichere Aufklärung als Frauen. Zudem können Männer sich bei psychologischen Gruppentherapien in der Gegenwart von ausschließlich männlichen Teilnehmern leichter und in höherem Maß öffnen als in geschlechtergemischten Gruppen.<ref>Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52</ref>
 
  
== Geschlechtersensible Forschung ==
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<strong>[[File:6173e638bb312.png|600px|class=img-responsive]]</strong>
Die Entwicklung einer geschlechtersensiblen Gesundheitsversorgung erfordert ein Umdenken bezüglich wissenschaftlich-medizinischer Forschung. Aktuell beruht unser medizinisches Wissen noch hauptsächlich auf Basis des männlichen Organismus (männliche Probanden sowie männliche [[Tierstudien | Versuchstiere]]). Beispielsweise ist noch heute bei 22 bis 42 Prozent der physiologischen, neurowissenschaftlichen und biologischen Studien das Geschlecht der Versuchstiere für die Rezipienten nicht ersichtlich.<ref>Beery AK, Zucker I. Sex bias in neuroscience and biomedical research. Neuroscience & Biobehavioral Reviews 2011; 35(3):565–72.</ref> Dabei soll die Forschung am männlichen Organismus vor allem Verzerrungen infolge von hormonellen Unterschieden vermeiden.<ref>Becker JB, Arnold AP, Berkley KJ, Blaustein JD, Eckel LA, Hampson E et al. Strategies and Methods for Research on Sex Differences in Brain and Behavior. Endocrinology 2005; 146(4):1650–73.</ref> So fluktuiert das weibliche Hormonlevel unter anderem während des Menstruationszyklus und kann dann mit experimentellen Ergebnissen interagieren.  Auch gilt es innerhalb der [[Zellforschung]]  geschlechterspezifische Aspekte  verstärkt zu untersuchen.<ref>Pollitzer E. Biology: Cell sex matters. Nature 2013; 500(7460):23–4.</ref> <ref>Harreiter J, Thomas A, Kautzky-Willer A. Gendermedizin. In: Kolip P, Hurrelmann K, editors. Handbuch Geschlecht und Gesundheit: Männer und Frauen im Vergleich. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Bern: Hogrefe; 2016. p. 34–44 (Programmbereich Gesundheit).</ref> Tatsächlich sind zelluläre Geschlechterunterschiede nicht nur auf hormonelle Ursachen zurückzuführen. So zeigen beispielsweise weibliche und männliche embryonale Neuronen noch vor der Stimulation mit Sexualhormonen Unterschiede in ihrer Stressreaktion.<ref>Du L, Bayir H, Lai Y, Zhang X, Kochanek PM, Watkins SC et al. Innate gender-based proclivity in response to cytotoxicity and programmed cell death pathway. The Journal of biological chemistry 2004; 279(37):38563–70.</ref>
 
  
Der systematische Ausschluss weiblicher Organismen aus wissenschaftlichen Untersuchungen gilt nicht nur für Grundlagenforschung und Medikamentenstudien, sondern für die gesamte Bandbreite der medizinischen Gesundheitsversorgung (Ausnahme bilden [[frauenspezifische Gesundheitsaspekte]]). Aufgrund dessen kam und kommt es zu Fehldiagnosen und inkorrekter [[Medikamentöse Behandlung und Nebenwirkungen|medikamentöser Dosierungen]] bei Frauen (basierend u. a. auf Unterschieden in Pharmakokinetik und Pharmakodynamik) mit zwangsläufig negativen Konsequenzen. Verstärkt geschlechtersensible Forschung am Menschen, am [[Tierstudien | Tier]] und an [[Zellforschung | Zellen]] ist somit dringend notwendig und scheint im Zuge [[Individualisierte Medizin | individualisierter Medizin]] zunehmend in den wissenschaftlichen Fokus zu gelangen. [[Methodik|Methodisches Vorgehen]] muss dabei Sex und Gender nicht nur separat von einander, sondern auch deren Interaktion berücksichtigen.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref>
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<strong>Arthrose der Kniegelenke ist eher weiblich? Und Herzkreislauferkrankungen eher m&auml;nnlich? Stereotype Zuordnungen k&ouml;nnen eine ad&auml;quate Behandlung verhindern. [Quelle: GenderMed-Wiki (2016)]</strong>
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Das weibliche Geschlecht kann einen Risikofaktor bez&uuml;glich der (zu) sp&auml;t gestellten Diagnose bestimmter Erkrankungen bilden.<ref>Mosca L, Banka CL, Benjamin EJ, Berra K, Bushnell C, Dolor RJ et al. Evidence-based guidelines for cardiovascular disease prevention in women: 2007 update. Journal of the American College of Cardiology 2007; 49(11):1230&ndash;50.</ref>&nbsp;Beispielsweise werden Diagnosen f&uuml;r einen Herzinfarkt <ref>Mosca L, Banka CL, Benjamin EJ, Berra K, Bushnell C, Dolor RJ et al. Evidence-based guidelines for cardiovascular disease prevention in women: 2007 update. Journal of the American College of Cardiology 2007; 49(11):1230&ndash;50.</ref>&nbsp;oder eine HIV-Erkrankung <ref>Sordo del Castillo, Luis, Ruiz-P&eacute;rez I, Olry de Labry Lima, Antonio. Biological, psychosocial, therapeutic and quality of life inequalities between HIV-positive men and women - a review from a gender perspective. AIDS reviews 2010; 12(2):113&ndash;20.</ref>&nbsp;bei Frauen erst zu einem sehr sp&auml;ten Zeitpunkt gestellt. Grund daf&uuml;r ist unter anderen, dass diese Erkrankungen als &bdquo;untypisch&ldquo; f&uuml;r das weibliche Geschlecht eingeordnet werden und Frauen deshalb nicht als wahrscheinliche Kandidatinnen gelten. Herzinfarkte werden immer noch h&auml;ufig als &bdquo;M&auml;nnerkrankheit&ldquo; charakterisiert. Dabei ist oft nicht bekannt, dass &nbsp;sich die Symptome eines Herzinfarktes zwischen den Geschlechtern deutlich unterscheiden k&ouml;nnen. W&auml;hrend bei M&auml;nnern charakteristische Symptome (z. B. Engegef&uuml;hl in der Brust und ausstrahlender Schmerz in den Armen) auftreten, kann sich ein Herzinfarkt bei Frauen in Form eines schleichenden, unspezifischen Symptombeginns &auml;u&szlig;ern: Dabei sind Schmerzen der Kiefergelenke und des R&uuml;ckens sowie vasovagale Beschwerden (z. B. Schwei&szlig;ausbr&uuml;che, &Uuml;belkeit und Kurzatmigkeit) h&auml;ufig.<ref>Saner H. Manifestation und Verl&auml;ufe der koronaren Herzkrankheit bei M&auml;nnern und Frauen--Konsequenzen f&uuml;r Diagnose und Therapie. Therapeutische Umschau. Revue th&eacute;rapeutique 2007; 64(6):305&ndash;10.</ref>&nbsp;Die Chancenungleichheit von M&auml;nnern und Frauen hinsichtlich kardiologischer Behandlungen (z .B. werden Frauen mit akutem Infarkt circa 40 Minuten sp&auml;ter ins Krankenhaus eingeliefert) wird durch statistische Daten zur Todesursachenkl&auml;rung deutlich: So sterben mehr Frauen als M&auml;nner infolge einer Herzkreislauferkrankung, obgleich es sich doch eigentlich um eine klassische &quot;M&auml;nnerkrankheit&quot; handelt.<ref>Austria, S. (2007). Todesursachenstatistik. Download vom, 23, 2007.</ref>&nbsp;<ref>Hochleitner M. Gender Medicine: Ringvorlesung an der Medizinischen Universit&auml;t Innsbruck. Wien: Facultas.wuv; 2008.</ref>
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Auch AIDS gilt immer noch h&auml;ufig als typische Krankheit homosexueller M&auml;nner oder drogens&uuml;chtiger Personen. Dabei sind gegenw&auml;rtig &uuml;ber 50 Prozent der an AIDS Erkrankten weiblichen Geschlechts. Dem entgegen werden stereotyp weibliche Krankheiten wie Osteoporose (oft sind postmenopausale Frauen betroffen) bei M&auml;nnern h&auml;ufig &uuml;bersehen und wenig erforscht (beispielsweise wurden h&auml;ufig (junge) Frauen als Referenzgruppe f&uuml;r Knochendichte bei &auml;lteren M&auml;nnern herangezogen).<ref>Orwig DL, Chiles N, Jones M, Hochberg MC. Osteoporosis in men: update 2011. Rheumatic diseases clinics of North America 2011; 37(3):401-14, vi.</ref>
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===Intervention und Rehabilitation===
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Immer noch h&auml;ufig werden Frauen unter Ber&uuml;cksichtigung von Richtlinien, die auf Forschungen mit ausschlie&szlig;lich m&auml;nnlichen Probanden basieren, behandelt. Eine systematische Integration von Sex und Gender erfolgt bisher in keinem ad&auml;quaten Umfang. Aufgrund der Annahme, die Ergebnisse von Gesundheitsforschung seien geschlechterneutral, werden weibliche Versuchstiere h&auml;ufig von grundlegenden Forschungen ausgeschlossen. Verzerrungen infolge von hormonellen Unterschieden (z. B. Menstruationszyklus) sollen vermieden werden. Im medizinischen Alltag k&ouml;nnen solche Forschungsdesigns f&uuml;r Patientinnen zu Konsequenzen wie sp&auml;te oder inkorrekte Diagnosestellung, enormen Leidensdruck oder inad&auml;quate [[Medikament&ouml;se Behandlung und Nebenwirkungen|medikament&ouml;se Behandlung]] f&uuml;hren. Damit zusammenh&auml;ngend entstehen Folgen wie unn&ouml;tige Erkrankungen, steigende Gesundheitskosten und (im Extremfall) vermeidbare Todesf&auml;lle.<ref>Schiebinger L. Scientific research must take gender into account. Nature 2014; 507(7490):9.</ref>&nbsp;Rehabilitationsma&szlig;nahmen bieten zuweilen geschlechtergetrennte Behandlungsprogramme an. Zum Beispiel f&uuml;hlen sich adip&ouml;se Frauen gehemmt gemeinsam mit m&auml;nnlichen Teilnehmern Sport zu treiben und bevorzugen gleichgeschlechtliche Sportangebote. M&auml;nner haben durchschnittlich weniger Vorwissen bez&uuml;glich Ern&auml;hrung und Gesundheit und brauchen daher eine basalere und ausf&uuml;hrlichere Aufkl&auml;rung als Frauen. Zudem k&ouml;nnen M&auml;nner sich bei psychologischen Gruppentherapien in der Gegenwart von ausschlie&szlig;lich m&auml;nnlichen Teilnehmern leichter und in h&ouml;herem Ma&szlig; &ouml;ffnen als in geschlechtergemischten Gruppen.<ref>Kindler-R&ouml;hrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146&ndash;52</ref>
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==Geschlechterunterschiede im Gehirn==
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Auch im menschlichen Gehirn k&ouml;nnen sowohl strukturelle <ref>Xin, Jiang, et al. &quot;Brain Differences between Men and Women: Evidence from Deep Learning.&quot;&nbsp;<em>Frontiers in Neuroscience</em>&nbsp;13 (2019): 185.</ref> als auch funktionelle Geschlechterunterschiede beobachtet werden. Dabei zeigen sich strukturelle Unterschiede makroskopisch und mikroskopisch. Zum Beispiel ist das m&auml;nnliche Gehirn ungef&auml;hr 15 Prozent gr&ouml;&szlig;er und schwerer als das weibliche, wobei ein Unterschied auch nach Ber&uuml;cksichtigung der K&ouml;rpergr&ouml;&szlig;e bestehen bleibt. Au&szlig;erdem weist der m&auml;nnliche Kortex in allen vier Hirnlappen eine h&ouml;here Anzahl und Dichte an Neuronen auf und ein gr&ouml;&szlig;eres kortikales Volumen. Bei Frauen zeigt sich dagegen eine h&ouml;here kortikale Komplexit&auml;t. Strukturelle Unterschiede in kortikalen Substrukturen k&ouml;nnen nicht immer repliziert werden, zum Beispiel bei Frauen die linksseitige Asymmetrie des Planum temporale, das als Teil des Wernicke-Areals mit Sprachfunktionen assoziiert ist. Damit ist auch weitestgehend unklar, inwiefern potentielle strukturelle Geschlechterunterschiede mit spezifischen kognitiven F&auml;higkeiten zusammenh&auml;ngen. Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass funktionelle Unterschiede im Gehirn existieren. Unter anderem wird bei Frauen eine h&ouml;here interhemisph&auml;rische Interaktion angenommen.<ref>Hausmann, M. (2014). Gehirn, strukturelle und funktionelle Geschlechterunterschiede. In M.A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch &ndash; Lexikon der Psychologie (18. Aufl., S. 612). Bern: Hogrefe Verlag.</ref>
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Im Jahr 2019 ver&ouml;ffentlichte eine US-Studie neue Erkenntnisse zu Geschlechterunterschieden im Stoffwechsel des Gehirns. .<ref>Goyal, M. S., Blazey, T. M., Su, Y., Couture, L. E., Durbin, T. J., Bateman, R. J., ... &amp; Vlassenko, A. G. (2019). Persistent metabolic youth in the aging female brain.&nbsp;<em>Proceedings of the National Academy of Sciences</em>, 201815917.</ref> Dabei scheinen weibliche Gehirne, gemessen am Stoffwechsel, nicht nur j&uuml;nger zu sein als ihr tats&auml;chliches Alter, sondern auch als die Gehirne von M&auml;nnern der gleichen Altersklasse. Diese Ergebnisse k&ouml;nnten erkl&auml;ren, warum das Ged&auml;chtnis von Frauen im Alter durchschnittlich besser funktioniert als das von M&auml;nnern. Dabei ist es nicht so, dass das Gehirn von M&auml;nnern schneller altert, sondern schon als junge Erwachsene ist ihr Gehirn bez&uuml;glich des Stoffwechsels drei Jahre &bdquo;&auml;lter&ldquo; als bei Frauen. Dieser Unterschied bleibt im weiteren Lebensverlauf bestehen.
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==Geschlechtersensible Forschung==
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Die Entwicklung einer geschlechtersensiblen Gesundheitsversorgung erfordert ein Umdenken bez&uuml;glich wissenschaftlich-medizinischer Forschung. Aktuell beruht unser medizinisches Wissen noch haupts&auml;chlich auf Basis des m&auml;nnlichen Organismus (m&auml;nnliche Probanden sowie m&auml;nnliche [[Tierstudien | Versuchstiere]]). Beispielsweise ist noch heute bei 22 bis 42 Prozent der physiologischen, neurowissenschaftlichen und biologischen Studien das Geschlecht der Versuchstiere f&uuml;r die Rezipienten nicht ersichtlich.<ref>Beery AK, Zucker I. Sex bias in neuroscience and biomedical research. Neuroscience &amp; Biobehavioral Reviews 2011; 35(3):565&ndash;72.</ref>&nbsp;Dabei soll die Forschung am m&auml;nnlichen Organismus vor allem Verzerrungen infolge von hormonellen Unterschieden vermeiden.<ref>Becker JB, Arnold AP, Berkley KJ, Blaustein JD, Eckel LA, Hampson E et al. Strategies and Methods for Research on Sex Differences in Brain and Behavior. Endocrinology 2005; 146(4):1650&ndash;73.</ref>&nbsp;So fluktuiert das weibliche Hormonlevel unter anderem w&auml;hrend des Menstruationszyklus und kann dann mit experimentellen Ergebnissen interagieren. &nbsp;Auch gilt es innerhalb der [[Zellforschung]] &nbsp;geschlechterspezifische Aspekte &nbsp;verst&auml;rkt zu untersuchen.<ref>Pollitzer E. Biology: Cell sex matters. Nature 2013; 500(7460):23&ndash;4.</ref>&nbsp;<ref>Harreiter J, Thomas A, Kautzky-Willer A. Gendermedizin. In: Kolip P, Hurrelmann K, editors. Handbuch Geschlecht und Gesundheit: M&auml;nner und Frauen im Vergleich. 2., vollst. &uuml;berarb. und erw. Aufl. Bern: Hogrefe; 2016. p. 34&ndash;44 (Programmbereich Gesundheit).</ref>&nbsp;Tats&auml;chlich sind zellul&auml;re Geschlechterunterschiede nicht nur auf hormonelle Ursachen zur&uuml;ckzuf&uuml;hren. So zeigen beispielsweise weibliche und m&auml;nnliche embryonale Neuronen noch vor der Stimulation mit Sexualhormonen Unterschiede in ihrer Stressreaktion.<ref>Du L, Bayir H, Lai Y, Zhang X, Kochanek PM, Watkins SC et al. Innate gender-based proclivity in response to cytotoxicity and programmed cell death pathway. The Journal of biological chemistry 2004; 279(37):38563&ndash;70.</ref>
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Der systematische Ausschluss weiblicher Organismen aus wissenschaftlichen Untersuchungen gilt nicht nur f&uuml;r Grundlagenforschung und Medikamentenstudien, sondern f&uuml;r die gesamte Bandbreite der medizinischen Gesundheitsversorgung (Ausnahme bilden [[frauenspezifische Gesundheitsaspekte]]). Aufgrund dessen kam und kommt es zu Fehldiagnosen und inkorrekter [[Medikament&ouml;se Behandlung und Nebenwirkungen|medikament&ouml;ser Dosierungen]] bei Frauen (basierend u. a. auf Unterschieden in Pharmakokinetik und Pharmakodynamik) mit zwangsl&auml;ufig negativen Konsequenzen. Verst&auml;rkt geschlechtersensible Forschung am Menschen, am [[Tierstudien | Tier]] und an [[Zellforschung | Zellen]] ist somit dringend notwendig und scheint im Zuge [[Individualisierte Medizin | individualisierter Medizin]] zunehmend in den wissenschaftlichen Fokus zu gelangen. [[Methodik|Methodisches Vorgehen]] muss dabei Sex und Gender nicht nur separat von einander, sondern auch deren Interaktion ber&uuml;cksichtigen.<ref>The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015</ref>
  
 
==Externe Links==
 
==Externe Links==
* [http://gendermeddb.charite.de/ Datenbank Gendermedizin der Charité - Pilotprojekt "Geschlechterforschung in der Medizin"]
 
* [http://genderedinnovations.stanford.edu/ Stanford Edu: Gendered Innovations in Science, Health & Medicine, Engineering and Environment]
 
* [http://www.dgesgm.de/ Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V. (DGesGM)]
 
* [https://www.gendermed.info/ Anna Fischer: Gender in Medicine]
 
* [http://www.eubuero.de/fif-aktuelles.htm EU-Büro des BMBF: Online-Trainingsmodule für gendersensible Gesundheitsforschung]
 
* [http://www.gendermedizin.at/ Österreichische Gesellschaft für geschlechterspezifische Medizin (ÖGGSM)]
 
  
== Literatur ==
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<ul>
<div class="toccolours mw-collapsible mw-collapsed">
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<li>[http://gendermeddb.charite.de/ Datenbank Gendermedizin der Charit&eacute; - Pilotprojekt &quot;Geschlechterforschung in der Medizin&quot;]</li>
Klicken Sie auf "Ausklappen" um die Literaturverweise anzuzeigen.
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<li>[http://genderedinnovations.stanford.edu/ Stanford Edu: Gendered Innovations in Science, Health &amp; Medicine, Engineering and Environment]</li>
<div class="mw-collapsible-content"> <references/></div>
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<li>[http://www.dgesgm.de/ Deutsche Gesellschaft f&uuml;r Geschlechtsspezifische Medizin e.V. (DGesGM)]</li>
</div>
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<li>[https://www.gendermed.info/ Anna Fischer: Gender in Medicine]</li>
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<li>[http://www.eubuero.de/fif-aktuelles.htm EU-B&uuml;ro des BMBF: Online-Trainingsmodule f&uuml;r gendersensible Gesundheitsforschung]</li>
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<li>[http://www.gendermedizin.at/ &Ouml;sterreichische Gesellschaft f&uuml;r geschlechterspezifische Medizin (&Ouml;GGSM)]</li>
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==Ausblick==
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==Literatur==
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<div class="toccolours mw-collapsible mw-collapsed">Klicken Sie auf "Ausklappen" um die Literaturverweise anzuzeigen.<div class="mw-collapsible-content"> <references/></div></div>
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==Lizenz==
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Dieser Artikel ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. Den vollen Lizenzinhalt finden Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/legalcode
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==Autoren==
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Julia Schreitmüller
  
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Zuletzt geändert: 2021-10-23 12:38:44
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|style="border: 2px #003399 solid;" | [[Modul 1: Geschlecht und Medizin/Quiz |<big><big><span><u>Weiter zum Quiz</u></span></big></big>]]
 
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|style="border: 2px #003399 solid;" | [[Modul 1: Geschlecht und Medizin/Lehrmaterial |<big><big><span><u>Weiter zum Lehrmaterial</u></span></big></big>]]
 
|}
 

Aktuelle Version vom 23. Oktober 2021, 11:38 Uhr

Geschlechtersensible Medizin – Was ist das? [Bearbeiten]

Im Zuge eines individuengerechten Behandlungskonzeptes ergibt sich auch theoretische und praktische Relevanz für die geschlechtersensible Medizin: Geschlecht wird dabei nicht nur als ein individueller Risikofaktor für die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten eingeordnet, sondern nimmt zudem entscheidenden Einfluss auf den gesamten Behandlungsprozess. Geschlechtersensible Medizin umfasst weniger eine eigene Fachdisziplin, als eine interdisziplinäre Perspektive, die den meisten Fachgebieten eine neue Dimension eröffnen kann und muss. Die geschlechtersensible Medizin beschreibt eine interdisziplinäre Betrachtungsweise der Humanmedizin, die den Einfluss des biologischen und psychosozialen/soziokulturellen Geschlechts auf Gesundheit und Krankheit berücksichtigt. Die geschlechtersensible Sichtweise dahinter ist eigentlich selbstverständlich: Frauen und Männer unterscheiden sich in vielem. Wichtig ist, dass diese Unterschiede bei weitem nicht auf anatomische und physiologische Primärmerkmale zu beschränken sind. Vielmehr gilt es, biologische und soziale Unterschiede von Geschlecht bezüglich Aspekten wie Disposition, Prävalenz oder auch Copingstrategien und Therapieadhärenz zu berücksichtigen, um adäquate Behandlungsmaßnahmen zu gewährleisten. Dabei kann sowohl das Geschlecht der Patientinnen und Patienten als auch das Geschlecht des medizinischen Fachpersonals Einfluss auf den Versorgungsprozess nehmen.[1]

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Die englische Sprache ermöglicht (anders als der deutsche Ausdruck „Geschlecht“) eine begrifflich genaue Unterscheidung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht. Der Begriff „Gender“ beschreibt alle sozialen Aspekte von Geschlecht und nimmt damit Bezug auf geschlechterspezifische Rollenverteilung, die beeinflusst wird von Umweltfaktoren wie soziokulturelle Erwartungen und Erziehungsstrukturen. Dagegen werden biologische Faktoren von Geschlecht (u. a. Chromosomale Grundlage, Sexualhormone, Immunsystem oder Stoffwechsel) dem Begriff „Sex“ zugeordnet. Sexueller Dimorphismus umfasst dann das Auftreten von zwei deutlich verschiedenen Erscheinungsformen des gleichen Merkmales in männlichen und weiblichen Individuen der gleichen Art.[2]

 

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Grafik 1. Interaktion von Sex und Gender [Quelle: GenderMed-Wiki, nach: Kindler-Röhrborn & Pfleiderer (2012)]

Entscheidend ist, Sex und Gender keinesfalls als separierte Dimensionen zu begreifen. Vielmehr ergibt sich eine lebenslange Interaktion auf biologischer und sozialer Ebene, die für fast alle Krankheitsbilder eine Rolle spielt (vergleiche Grafik 1). Die Medizin steht vor der anspruchsvollen Aufgabe diese Interaktion biologischer und sozialer Geschlechtermerkmale in den Behandlungsprozess zu integrieren und dabei zusätzlich die Wechselwirkung zwischen Geschlechteraspekten und Krankheitsverlauf zu berücksichtigen. Zum Beispiel kann das jeweilige hormonelle Level die individuelle Stimmung und Wahrnehmung beeinflussen und depressive oder ängstliche Symptome fördern. Andererseits kann auch der emotionale Zustand Wahrnehmungsprozesse beeinflussen: Angst und Depression (bei Frauen deutlich häufiger als bei Männern) senken die individuelle Schmerzschwelle und erhöhen damit die subjektive Schmerzwahrnehmung.[3] Folglich wirken geschlechterspezifische biologische und soziale Faktoren in einer komplexen Weise zusammen und beeinflussen dabei Prävalenz, Schweregrad, Verlauf und Behandlungserfolg von Erkrankungen. Geschlecht sollte deshalb Grundlage einer modernen individualisierten Gesundheitsversorgung mit multidisziplinärer Zusammenarbeit sein.[4]

Entwicklung eines wissenschaftlichen Diskurses[Bearbeiten]

1998 wurde vom Statistischen Bundesamt der erste Gesundheitsbericht für Deutschland herausgegeben.[5] Dieser wies ein klares Defizit auf: Nur sehr wenige der aufbereiteten Daten wurden nach Geschlecht differenziert, obgleich die Frauengesundheitsforschung und -praxis bis zu diesem Zeitpunkt schon auf eine mehr als 20-jährige Tradition zurückschauen konnte. Die in diesem Rahmen erarbeiteten Ergebnisse hatten jedoch keinen Eingang in die allgemeine Gesundheitsberichtserstattung gefunden. Die geschlechtersensiblen Defizite in der Berichterstattung verstärkten den nationalen Diskurs rund um Geschlecht und Medizin und schon wenige Jahre später (im Jahr 2001) wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) der ''Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen'' herausgegeben. Diesem Bericht liegt ein bio-psycho-soziales Verständnis von Geschlecht und Gesundheit bzw. Krankheit zugrunde und er gilt damit bis heute als ein wichtiger Meilenstein der geschlechtersensiblen Medizin:[6] Der deutsche Diskurs hatte nun Anschluss an die internationale Gesundheitspolitik gefunden und bereits 2002 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Region Europa eine Deklaration, die die Bedeutung von Geschlecht auf die Gesundheitsforschung hervorhob.[7] Obgleich die geschlechtersensible Medizin gegenwärtig noch lange nicht ausreichend in die medizinische Theorie und Praxis implementiert wurde, hat sich dennoch seit 2002 das Themenfeld „Geschlecht und Gesundheit“ maßgeblich weiterentwickelt: Es findet nun eine Stärkung und Intensivierung der interdisziplinären Forschung statt ebenso wie  eine systematische Aufschlüsselung der Kategorie Geschlecht. Die geschlechtersensible Gesundheitsberichterstattung und Versorgungspraxis hat sich enorm weiterentwickelt und dabei auch das Thema der Männergesundheit aufgegriffen.[8]

Detaillierte Information zu Entstehung und Entwicklung des wissenschaftlichen und politischen Diskurses rund um Geschlecht und Medizin erhalten Sie hier.

Geschlechtersensible Medizin über die Lebensspanne[Bearbeiten]

Eine patientInnenorientierte Versorgung beinhaltet, dass Symptome und Beschwerden in Relation zur individuellen Lebenssituation betrachtet werden müssen. Die jeweilige Lebenssituation unterscheidet sich nicht nur zwischen den einzelnen Individuen, sondern auch intraindividuell hinsichtlich der einzelnen Lebensphasen. Über die Lebensspanne hinweg unterscheiden sich Männer und Frauen bezüglich ihrer biologischen und sozialen Entwicklung und stehen nicht selten vor differenten gesundheitlichen Herausforderungen.

In der Kindheit und Jugend sind vor allem Aspekte wie Heranwachsen, Lernen und Identitätssuche entscheidend. Dabei verläuft das körperliche Wachstum bei Jungen langsamer und irregulärer als bei Mädchen. Jungen haben häufig Wachstumsschübe, während Mädchen stetiger wachsen. Ähnlich verläuft die emotionale und kognitive Entwicklung bei Jungen langsamer und irregulärer als bei Mädchen. Bezüglich der Sprachentwicklung liegen Jungen zwölf bis 18 Monate hinter Mädchen. Ein höher entwickelter Frontalkortex ermöglicht Mädchen eine bessere Impulskontrolle als Jungen.[9] Das Erwachsenenalter ist geprägt von Beziehungen, (eventuell) Familiengründung und der Partizipation am Berufsleben. Viele (geschlechterspezifischen) Gesundheitsprobleme können sich im Erwachsenenalter manifestieren. Dabei besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Integration und Gesundheit. Beispielsweise hat die Tatsache, dass Frauen eher unter gesundheitlichen Einschränkungen leiden und geringere subjektive Gesundheitswerte haben als Männer, einen negativen Einfluss auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt und anderen sozialen Gebieten.[10] Im Alter nehmen Gesundheit und Alltagsfunktionalität zunehmend ab und die Teilhabe an der Gesellschaft verändert sich. Obwohl Frauen durchschnittlich länger leben, verbringen sie genauso viele Jahre in guter Gesundheit wie Männer. Das heißt, während der Jahre, die Frauen länger leben, leiden sie häufig unter chronischen Krankheiten und berichten von einer geringen krankheitsbezogene Lebensqualität mit deutlichen Funktionseinschränkungen (siehe auch: Lebenserwartung).[11] Geschlechterspezifischer Kommunikationsstil kann die medizinische Versorgung (unter anderem) in der letzten Lebensphase maßgeblich beeinflussen und berechtigt die Frage, ob Frauen und Männer unterschiedlich sterben: Beispielsweise erkennen Patientinnen im Vergleich zu Patienten mit einer onkologischen Erkrankung im Endstadium deutlich häufiger, dass ihr Zustand terminal verläuft. Sie können dies zudem besser verbalisieren und sprechen mit Ihrem Arzt/ihrer Ärztin eher über ihre Prognose bzw. Lebenserwartung. Patienten in der gleichen Situation begreifen seltener, dass Heilung nicht mehr Behandlungsziel ist und haben allgemein ein weniger akkurates Krankheitsverständnis.[12]

Geschlechterrelevanz in der Gesundheitsversorgung[Bearbeiten]

Schon angesichts der hohen Gesundheitskosten sollte das Gesundheitssystem ein so offensichtliches Merkmal wie das Geschlecht von Patient oder Patientin sowie Arzt oder Ärztin bei Diagnose und Therapie nicht außenvorlassen. Leider achten Ärzte und Ärztinnen in ihrem Behandlungsalltag immer noch zu wenig auf geschlechtersensible Unterschiede. Folge ist, dass bei einer Vielzahl von Erkrankungen falsche Diagnosen gestellt werden und damit geeignete Therapien nicht eingeleitet werden können. Gravierende Konsequenz kann dann eine erhöhte Sterblichkeit sein.[13] Geschlechtersensibles Wissen sollte baldigst in das medizinische Lehrangebot, die ärztliche Praxis sowie die staatliche Gesundheitspolitik integriert werden und sich nicht nur auf frauenspezifische Gesundheitsaspekte oder männerspezifische Gesundheitsaspekte begrenzen.[14] Medizinische Versorgung ist nicht geschlechterneutral. Dabei nimmt nicht nur das Geschlecht der zu behandelnden Person Einfluss auf den Versorgungsprozess. Entscheidend kann auch sein, ob das jeweilige Fachpersonal weiblich oder männlich ist (siehe auch Geschlecht des Fachpersonals). Studien erkennen und bestätigen einen oft unbewussten ''Gender Bias'', der sich auf das Geschlecht des Patienten/der Patientin und das Geschlecht des Arztes/der Ärztin sowie auf das Geschlechterverhältnis in der Behandlungssituation beziehen kann: Zum Beispiel scheinen Patienten mit Typ-2-Diabetes signifikant seltener eine optimale Behandlung zur Vermeidung von möglichen Folgekomplikationen zu erhalten als Patientinnen. Zudem betreuen Ärztinnen Patienten und Patientinnen mit Typ-2-Diabetes besser und betreiben intensiver prognostisch wichtiges Präventionsmanagement als Ärzte. Ärztinnen gelingt es besser als ihren männlichen Kollegen, den Blutzuckerspiegel und den Blutlipidspiegel zu senken.[15]

Gesundheitsverhalten[Bearbeiten]

Ein gesunder Lebensstil kann das Risiko zu erkranken reduzieren und deutlichen Einfluss auf die Ergebnisse einer Behandlung nehmen. Beeinflussende Faktoren sind dabei vor allem Rauchen, sportliche Betätigung, sicherer Geschlechtsverkehr, Alkoholkonsum und gesunde Ernährung. 

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Grafik 2. Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen in Deutschland [Quelle: GenderMed-Wiki, nach:  DAK-Gesundheitsreport (2016)]

Damit können Männer und Frauen aufgrund von bewussten Gesundheitsentscheidungen enormen Einfluss auf ihren gesundheitlichen Zustand ausüben und das Risiko senken, von Erkrankungen wie Diabetes mellitus, kardiovaskulären Erkrankungen oder Krebs betroffen zu sein. Lebensstil und gesundheitsbezogenes Verhalten unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern. Einer niederländischen Studie von 2013 zufolge, konsumieren Männer mehr Alkohol als Frauen, rauchen häufiger und sind deutlich öfter opioidabhängig. Hintergrund ist ein divergenter Umgang mit Genussmitteln.[16] Orientierend am aktuellen DAK-Gesundheitsreport (2016), stellt Grafik 2 Unterschiede im Gesundheitsverhalten zwischen den Geschlechtern dar.[17]

Frauen und Männer unterscheiden sich in ihren Einschätzungen bezüglich Gesundheit und Krankheit. Dabei scheint ein Geschlechterunterschied bezüglich der Wahrnehmung und Interpretation von Körperfunktionen zu bestehen.  Zudem kommunizieren Patientinnen und Patienten verschieden und präsentieren bzw. erklären ihre Symptome in unterschiedlicher Weise (oder versäumen dies). Zum Beispiel sind Männer mehr als Frauen geneigt dazu, gesundheitliche Beschwerden (einschließlich psychischer Probleme) zu verleugnen oder eigene Lösungsversuche zu finden. Frauen berichten dagegen früher und häufiger von gesundheitlichen Problemen.[18] Auch scheint ein Geschlechterunterschied bezüglich der Bewältigung von Problemen (gesundheitsbezogenen und anderen) zu bestehen. Daraus ergeben sich divergente Verhaltensweise bezüglich des Aufsuchens und der Inanspruchnahme professioneller Hilfe. Unklar dabei bleibt, ob Frauen zuweilen „übermäßigen“ Gebrauch von Gesundheitsangeboten machen (Frauen verursachen höhere Gesundheitskosten) oder ob Männer diese „ungenügend“ nutzen. 

Patientinnen und Patienten äußern unterschiedliche Bedürfnisse bezüglich ihrer medizinischen Behandlung bzw. Betreuung.  Beispielsweise ergab eine Studie von 2010, dass Frauen mit einer onkologischen Erkrankung stärker als erkrankte Männer besorgt sind bezüglich der Wartezeiten, des Verhaltens vom Pflegepersonal, der medizinischen Unterstützung und Beratung sowie der Kontinuierlichkeit der Betreuung. Sie sind aufmerksamer hinsichtlich ihres Krankheitszustandes, unterziehen sich häufiger notwendigen Untersuchungen und sind eher bereit Nachforschungen bezüglich potentieller onkologischer Symptome anzustellen.[19] Zudem nutzen 15.5 Millionen weibliche, aber nur 3.5 Millionen männliche Versicherte in Deutschland Angebote zur Krebsfrüherkennung. Die Einführung geschlechtersensibler Präventionsprogramme scheint damit dringend notwendig, um die Zielgruppe der Männer erreichen zu können. Unter anderen erweisen sich die in medizinischen Praxen ausgelegten Informationen über Vorsorgeuntersuchungen als problematisch. Aufgrund von sprachlichen Formulierungen und Bildmaterial scheinen sich Männer häufig nicht angesprochen zu fühlen. Zudem besuchen Männer im Vergleich zu Frauen seltener medizinische Praxen. Nötig sind offenbar andere Anreize, um Männer für ihre Gesundheit stärker zu sensibilisieren. Letztlich gilt es für Praktizierende im Gesundheitssystem zu berücksichtigen, auf welche Weise Frauen und Männer physische Beschwerden wahrnehmen, interpretieren und präsentieren. Dementsprechend lässt sich dann das medizinische Verhalten so ausrichten, dass die aktuell erforderliche (individuelle) Betreuung gewährleistet werden kann.[20]

Symptomatik[Bearbeiten]

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Arthrose der Kniegelenke ist eher weiblich? Und Herzkreislauferkrankungen eher männlich? Stereotype Zuordnungen können eine adäquate Behandlung verhindern. [Quelle: GenderMed-Wiki (2016)]

Das weibliche Geschlecht kann einen Risikofaktor bezüglich der (zu) spät gestellten Diagnose bestimmter Erkrankungen bilden.[21] Beispielsweise werden Diagnosen für einen Herzinfarkt [22] oder eine HIV-Erkrankung [23] bei Frauen erst zu einem sehr späten Zeitpunkt gestellt. Grund dafür ist unter anderen, dass diese Erkrankungen als „untypisch“ für das weibliche Geschlecht eingeordnet werden und Frauen deshalb nicht als wahrscheinliche Kandidatinnen gelten. Herzinfarkte werden immer noch häufig als „Männerkrankheit“ charakterisiert. Dabei ist oft nicht bekannt, dass  sich die Symptome eines Herzinfarktes zwischen den Geschlechtern deutlich unterscheiden können. Während bei Männern charakteristische Symptome (z. B. Engegefühl in der Brust und ausstrahlender Schmerz in den Armen) auftreten, kann sich ein Herzinfarkt bei Frauen in Form eines schleichenden, unspezifischen Symptombeginns äußern: Dabei sind Schmerzen der Kiefergelenke und des Rückens sowie vasovagale Beschwerden (z. B. Schweißausbrüche, Übelkeit und Kurzatmigkeit) häufig.[24] Die Chancenungleichheit von Männern und Frauen hinsichtlich kardiologischer Behandlungen (z .B. werden Frauen mit akutem Infarkt circa 40 Minuten später ins Krankenhaus eingeliefert) wird durch statistische Daten zur Todesursachenklärung deutlich: So sterben mehr Frauen als Männer infolge einer Herzkreislauferkrankung, obgleich es sich doch eigentlich um eine klassische "Männerkrankheit" handelt.[25] [26]

Auch AIDS gilt immer noch häufig als typische Krankheit homosexueller Männer oder drogensüchtiger Personen. Dabei sind gegenwärtig über 50 Prozent der an AIDS Erkrankten weiblichen Geschlechts. Dem entgegen werden stereotyp weibliche Krankheiten wie Osteoporose (oft sind postmenopausale Frauen betroffen) bei Männern häufig übersehen und wenig erforscht (beispielsweise wurden häufig (junge) Frauen als Referenzgruppe für Knochendichte bei älteren Männern herangezogen).[27]

Intervention und Rehabilitation[Bearbeiten]

Immer noch häufig werden Frauen unter Berücksichtigung von Richtlinien, die auf Forschungen mit ausschließlich männlichen Probanden basieren, behandelt. Eine systematische Integration von Sex und Gender erfolgt bisher in keinem adäquaten Umfang. Aufgrund der Annahme, die Ergebnisse von Gesundheitsforschung seien geschlechterneutral, werden weibliche Versuchstiere häufig von grundlegenden Forschungen ausgeschlossen. Verzerrungen infolge von hormonellen Unterschieden (z. B. Menstruationszyklus) sollen vermieden werden. Im medizinischen Alltag können solche Forschungsdesigns für Patientinnen zu Konsequenzen wie späte oder inkorrekte Diagnosestellung, enormen Leidensdruck oder inadäquate medikamentöse Behandlung führen. Damit zusammenhängend entstehen Folgen wie unnötige Erkrankungen, steigende Gesundheitskosten und (im Extremfall) vermeidbare Todesfälle.[28] Rehabilitationsmaßnahmen bieten zuweilen geschlechtergetrennte Behandlungsprogramme an. Zum Beispiel fühlen sich adipöse Frauen gehemmt gemeinsam mit männlichen Teilnehmern Sport zu treiben und bevorzugen gleichgeschlechtliche Sportangebote. Männer haben durchschnittlich weniger Vorwissen bezüglich Ernährung und Gesundheit und brauchen daher eine basalere und ausführlichere Aufklärung als Frauen. Zudem können Männer sich bei psychologischen Gruppentherapien in der Gegenwart von ausschließlich männlichen Teilnehmern leichter und in höherem Maß öffnen als in geschlechtergemischten Gruppen.[29]

Geschlechterunterschiede im Gehirn[Bearbeiten]

Auch im menschlichen Gehirn können sowohl strukturelle [30] als auch funktionelle Geschlechterunterschiede beobachtet werden. Dabei zeigen sich strukturelle Unterschiede makroskopisch und mikroskopisch. Zum Beispiel ist das männliche Gehirn ungefähr 15 Prozent größer und schwerer als das weibliche, wobei ein Unterschied auch nach Berücksichtigung der Körpergröße bestehen bleibt. Außerdem weist der männliche Kortex in allen vier Hirnlappen eine höhere Anzahl und Dichte an Neuronen auf und ein größeres kortikales Volumen. Bei Frauen zeigt sich dagegen eine höhere kortikale Komplexität. Strukturelle Unterschiede in kortikalen Substrukturen können nicht immer repliziert werden, zum Beispiel bei Frauen die linksseitige Asymmetrie des Planum temporale, das als Teil des Wernicke-Areals mit Sprachfunktionen assoziiert ist. Damit ist auch weitestgehend unklar, inwiefern potentielle strukturelle Geschlechterunterschiede mit spezifischen kognitiven Fähigkeiten zusammenhängen. Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass funktionelle Unterschiede im Gehirn existieren. Unter anderem wird bei Frauen eine höhere interhemisphärische Interaktion angenommen.[31]

Im Jahr 2019 veröffentlichte eine US-Studie neue Erkenntnisse zu Geschlechterunterschieden im Stoffwechsel des Gehirns. .[32] Dabei scheinen weibliche Gehirne, gemessen am Stoffwechsel, nicht nur jünger zu sein als ihr tatsächliches Alter, sondern auch als die Gehirne von Männern der gleichen Altersklasse. Diese Ergebnisse könnten erklären, warum das Gedächtnis von Frauen im Alter durchschnittlich besser funktioniert als das von Männern. Dabei ist es nicht so, dass das Gehirn von Männern schneller altert, sondern schon als junge Erwachsene ist ihr Gehirn bezüglich des Stoffwechsels drei Jahre „älter“ als bei Frauen. Dieser Unterschied bleibt im weiteren Lebensverlauf bestehen.

Geschlechtersensible Forschung[Bearbeiten]

Die Entwicklung einer geschlechtersensiblen Gesundheitsversorgung erfordert ein Umdenken bezüglich wissenschaftlich-medizinischer Forschung. Aktuell beruht unser medizinisches Wissen noch hauptsächlich auf Basis des männlichen Organismus (männliche Probanden sowie männliche Versuchstiere). Beispielsweise ist noch heute bei 22 bis 42 Prozent der physiologischen, neurowissenschaftlichen und biologischen Studien das Geschlecht der Versuchstiere für die Rezipienten nicht ersichtlich.[33] Dabei soll die Forschung am männlichen Organismus vor allem Verzerrungen infolge von hormonellen Unterschieden vermeiden.[34] So fluktuiert das weibliche Hormonlevel unter anderem während des Menstruationszyklus und kann dann mit experimentellen Ergebnissen interagieren.  Auch gilt es innerhalb der Zellforschung  geschlechterspezifische Aspekte  verstärkt zu untersuchen.[35] [36] Tatsächlich sind zelluläre Geschlechterunterschiede nicht nur auf hormonelle Ursachen zurückzuführen. So zeigen beispielsweise weibliche und männliche embryonale Neuronen noch vor der Stimulation mit Sexualhormonen Unterschiede in ihrer Stressreaktion.[37]

Der systematische Ausschluss weiblicher Organismen aus wissenschaftlichen Untersuchungen gilt nicht nur für Grundlagenforschung und Medikamentenstudien, sondern für die gesamte Bandbreite der medizinischen Gesundheitsversorgung (Ausnahme bilden frauenspezifische Gesundheitsaspekte). Aufgrund dessen kam und kommt es zu Fehldiagnosen und inkorrekter medikamentöser Dosierungen bei Frauen (basierend u. a. auf Unterschieden in Pharmakokinetik und Pharmakodynamik) mit zwangsläufig negativen Konsequenzen. Verstärkt geschlechtersensible Forschung am Menschen, am Tier und an Zellen ist somit dringend notwendig und scheint im Zuge individualisierter Medizin zunehmend in den wissenschaftlichen Fokus zu gelangen. Methodisches Vorgehen muss dabei Sex und Gender nicht nur separat von einander, sondern auch deren Interaktion berücksichtigen.[38]

Externe Links[Bearbeiten]

Ausblick[Bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten]

Klicken Sie auf "Ausklappen" um die Literaturverweise anzuzeigen.
  1. Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52
  2. Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52
  3. Pfleiderer B, Ritzkat A, Pogatzki Zahn E. Sex and Gender effects in pain: Universitätsklinikum Münster, Institut für klinische Radiologie (AG "Cognition and Gender"), Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie; 2015
  4. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015
  5. Statistisches Bundesamt. Gesundheitsbericht für Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt; 1998.
  6. BMFSFJ - Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Bericht zur gesundheitlichen Lage von Frauen. Bonn: Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend; 2001.
  7. WHO Euro - WHO Regional Office for Europe. Mainstreaming gender equity in health: The need to move forward. Madrid Statement. Copenhagen; 2002.
  8. Kolip P, Hurrelmann K. Handbuch Geschlecht und Gesundheit: Männer und Frauen im Vergleich. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Bern: Hogrefe; 2016. (Programmbereich Gesundheit).
  9. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015
  10. Merens A, van den Brakel, M. Emancipatiemonitor 2014. Den Haag: SCP/CBS; 2014 Dec 16
  11. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015
  12. Fletcher K, Prigerson HG, Paulk E, Temel J, Finlay E, Marr L et al. Gender differences in the evolution of illness understanding among patients with advanced cancer. The journal of supportive oncology 2013; 11(3):126–32.
  13. Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52
  14. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015
  15. Gouni-Berthold I, Berthold HK, Mantzoros CS, Böhm M, Krone W. Sex disparities in the treatment and control of cardiovascular risk factors in type 2 diabetes. Diabetes care 2008; 31(7):1389–91.
  16. Visscher TL, Am Bakel, van Zantinge EM. Overgewicht samengevat. Volksgezondheid Toekomst Verkenning, Nationaal Kompas Volksgezondheid. Bilthoven: RIVM, Bilthoven: RIVM, http://www. nationaalkompas. nl (accessed 8 May 2014) 2013.
  17. DAK-Gesundheitsreport 2016: Warum Frauen und Männer anders krank sind; 2016. Available from: URL: http://www.dak.de/dak/gesundheit/DAK-Gesundheitsreport_2016-1783254.html.
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  22. Mosca L, Banka CL, Benjamin EJ, Berra K, Bushnell C, Dolor RJ et al. Evidence-based guidelines for cardiovascular disease prevention in women: 2007 update. Journal of the American College of Cardiology 2007; 49(11):1230–50.
  23. Sordo del Castillo, Luis, Ruiz-Pérez I, Olry de Labry Lima, Antonio. Biological, psychosocial, therapeutic and quality of life inequalities between HIV-positive men and women - a review from a gender perspective. AIDS reviews 2010; 12(2):113–20.
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  29. Kindler-Röhrborn A, Pfleiderer B. Gendermedizin - Modewort oder Notwendigkeit?: - Die Rolle des Geschlechts in der Medizin. XX 2012; 1(03):146–52
  30. Xin, Jiang, et al. "Brain Differences between Men and Women: Evidence from Deep Learning." Frontiers in Neuroscience 13 (2019): 185.
  31. Hausmann, M. (2014). Gehirn, strukturelle und funktionelle Geschlechterunterschiede. In M.A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie (18. Aufl., S. 612). Bern: Hogrefe Verlag.
  32. Goyal, M. S., Blazey, T. M., Su, Y., Couture, L. E., Durbin, T. J., Bateman, R. J., ... & Vlassenko, A. G. (2019). Persistent metabolic youth in the aging female brain. Proceedings of the National Academy of Sciences, 201815917.
  33. Beery AK, Zucker I. Sex bias in neuroscience and biomedical research. Neuroscience & Biobehavioral Reviews 2011; 35(3):565–72.
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  37. Du L, Bayir H, Lai Y, Zhang X, Kochanek PM, Watkins SC et al. Innate gender-based proclivity in response to cytotoxicity and programmed cell death pathway. The Journal of biological chemistry 2004; 279(37):38563–70.
  38. The Netherlands Organisation for Health Research and Development. Gender and Health: Knowledge Agenda. Den Haag; 2015

Lizenz[Bearbeiten]

Dieser Artikel ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. Den vollen Lizenzinhalt finden Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/legalcode

Autoren[Bearbeiten]

Julia Schreitmüller

Zuletzt geändert: 2021-10-23 12:38:44

Veranlagung bzw. Anfälligkeit, an einer bestimmten Krankheit zu erkranken.

Die Häufigkeit einer Krankheit oder eines Symptoms in einer definierten Population zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Biologisches Geschlecht

Soziales Geschlecht

Die Einwirkung des Organismus auf ein eingenommenes Arzneimittel in Abhängigkeit von der Zeit.

Die Effekte des Arzneimittels am Zielort.