Geschlechterunterschiede bei Suizid und Suizidalität/Einführungsartikel


Geschlechterunterschiede in der Häufigkeit von Selbstmorden (Suiziden) sind weltweit gesichert: So begehen Männer bis zu drei Mal häufiger Selbstmord als Frauen. Zum Beispiel suizidierten sich im Jahr 2012 2603 Frauen und sogar 7287 Männer in Deutschland. Bei beiden Geschlechtern nimmt die Selbstmordrate mit zunehmendem Alter zu, bei Männern jedoch deutlich stärker.[1] Ursachen liegen oft in der sozialen und emotionalen Vereinsamung. Selbstmordversuche werden dagegen eher bei jüngeren Menschen beobachtet. Das Geschlechterverhältnis ist hier umgekehrt: Betroffen sind häufiger jüngere Frauen als jüngere Männer.[2]

Der größte Risikofaktor für Selbstmord ist eine psychische Erkrankung. Vor allem Depression, aber auch schizophrene oder Suchterkrankungen erhöhen das Risiko eines Selbstmordes enorm. Dabei werden 90 Prozent aller Selbstmorde mit einer psychischen Erkrankung assoziiert, meist mit einer Depression (bis zu 70 Prozent).[3] Obwohl Depressionen bei Frauen ungefähr doppelt so häufig diagnostiziert werden wie bei Männern, liegt der Anteil derjenigen Männer die infolge einer Depression Selbstmord begangen haben, mit 60 bis 70 Prozent deutlich über dem Anteil an Frauen. Man kann davon ausgehen, dass Depression bei Männern mit einem höheren Selbstmordrisiko einhergeht als dies bei Frauen der Fall ist.[4] Bezüglich einer Schizophrenie haben Männer jüngeren Alters ein besonders hohes Selbstmordrisiko. Dabei sind zusätzliche Einflussfaktoren wie ein guter Bildungsabschluss, das Wissen um die Erkrankung und um einen möglichen Verlauf sowie ein deutlicher Leidensdruck bei der Durchführung eines Selbstmordes charakterisitisch.[5]

Ganz anders als in der Allgemeinbevölkerung, ergibt sich bei Ärztinnen und Ärzten keine Geschlechterdifferenz in der Selbstmordhäufigkeit. Insgesamt begehen Mediziner und Medizinerinnen häufiger als NichtmedizinerInnen Selbstmord, dabei suizidieren sich Frauen etwa genauso häufig wie ihre männlichen Kollegen. Bei beiden Geschlechtern scheint die extrem hohe Arbeitsbelastung, aber auch soziale Isolation mitverantwortlich zu sein.[6] Bei Frauen mit Kindern kann vor allem die ständige Doppelbelastung und das Gefühl, der Rolle als Mutter und Berufstätige nicht gerecht werden zu können, zu starken Erschöpfungszuständen und depressiven Symptomen führen.[7] [8]

Gender Paradox[Bearbeiten]

Die deutlich höhere Selbstmordrate bei geringerer Selbstmordversuchsrate bei Männern im Vergleich zu Frauen wird wissenschaftlich als Gender Paradox diskutiert.[9] Paradox erscheint dabei besonders, dass der Selbstmordversuch als stärkster Vorhersagewert für zukünftige Selbstmorde gilt und Frauen demnach eine höhere Selbstmordrate als Männer aufweisen müssten.[10] Eine Erklärung für dieses Paradox ist sicherlich in sozialen Geschlechterstereotypien zu finden. Mit der sozial geprägten Geschlechterrolle ist ein Selbstmord bei Männern deutlich leichter vereinbar als ein "missglückter Selbstmord" im Sinne eines Selbstmordversuches.[11] [12] Zusätzlich wählen Männer durchschnittlich härtere Selbstmordmethoden, die wahrscheinlicher auch zum Tod führen.[13] Auch zeigen psychisch erkrankte Männer ein deutlich geringeres Hilfesuchverhalten als erkrankte Frauen, verbalisieren ihr Leiden seltener und besitzen allgemein eine niedrigere Behandlungsbereitschaft.[14] Notwendig ist also ein Umdenken männlicher Geschlechterrollen, um die Akzeptanz psychischer Krankheiten bei Männern zu fördern, das Hilfesuchverhalten zu erhöhen und letztlich dem Selbstmord präventiv begegnen zu können.[15] Präventionsprogramme die soziale Geschlechterrollen erkennen und berücksichtigen sind dabei dringend erforderlich. Ein Zugang zu präventiven Maßnahmen bei Männern (und Frauen) könnten beispielsweise Präventionsprogramme am Arbeitsplatz sein.[16]

Literatur[Bearbeiten]

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  1. NASPRO. (2012). Nationales Suizidpräventionsprogramm für Deutschland. Suizide in Deutschland 2012: Suizidzahlen und -raten 1990-2012 in Deutschland.
  2. Weissman, M. M., Bland, R. C., Canino, G. J., Greenwald, S., Hwu, H. G., Joyce, P. R., . . . Yeh, E. K. (1999). Prevalence of suicide ideation and suicide attempts in nine countries. Psychological medicine, 29(1), 9–17.
  3. Wahlbeck K. & Mäkinen M. (Eds). (2008). Prevention of depression and suicide. Consensus paper. Luxembourg: European Communities.
  4. Schaller, E. & Wolfersdorf, M. (2009). Depression and suicide. Suicidal Behaviour: Assessment & Diagnosis. Sage Publications, New Delhi.
  5. Wolfersdorf, M., & Plöderl, M. (2016). Geschlechterunterschiede bei Suizid und Suizidalität. In P. Kolip & K. Hurrelmann (Eds.), Programmbereich Gesundheit. Handbuch Geschlecht und Gesundheit. Männer und Frauen im Vergleich (2nd ed.). Bern: Hogrefe.
  6. Reimer, C., Trinkaus, S., & Jurkat, H. B. (2005). Suizidalität bei Ärztinnen und Ärzten. Psychiatrische Praxis, 32(08), 381-385.
  7. Arnetz B B, Hörte L G, Hedberg A, Theorell T, Allander E, Malker H. Suicide patterns among physicians related to other academics as well as to the general population. Acta psychiatrica Scandinavica. 1987; 75 139-143
  8. Sonneck G, Wagner R. Suicide and burnout of physicians. Omega. 1996; 33 (3) 255-263
  9. Canetto SS, Sakinofsky I. The Gender Paradox in Suicide. Suicide and Life-Threatening Behavior 1998; 28(1):1–23.
  10. Wolfersdorf, M., & Plöderl, M. (2016). Geschlechterunterschiede bei Suizid und Suizidalität. In P. Kolip & K. Hurrelmann (Eds.), Programmbereich Gesundheit.
  11. Payne Sarah, Swami Viren, and Stanistreet Debbi L.. Journal of Men's Health. November 2013, 5(1): 23-35. doi:10.1016/j.jomh.2007.11.002.
  12. Scourfield, J., & Evans, R. (2015). Why Might Men Be More at Risk of Suicide After a Relationship Breakdown? Sociological Insights. American journal of men's health, 9(5), 380-384.doi:10.1177/1557988314546395
  13. Canetto SS, Sakinofsky I. The Gender Paradox in Suicide. Suicide and Life-Threatening Behavior 1998; 28(1):1–23.
  14. Schrijvers, D. L., Bollen, J., & Sabbe, B. G. C. (2012). The gender paradox in suicidal behavior and its impact on the suicidal process. Journal of affective disorders, 138(1-2), 19–26. doi:10.1016/j.jad.2011.03.050
  15. Wolfersdorf, M., & Plöderl, M. (2016). Geschlechterunterschiede bei Suizid und Suizidalität. In P. Kolip & K. Hurrelmann (Eds.), Programmbereich Gesundheit. Handbuch Geschlecht und Gesundheit. Männer und Frauen im Vergleich (2nd ed.). Bern: Hogrefe.
  16. Gullestrup, J., Lequertier, B., & Martin, G. (2011). MATES in construction: impact of a multimodal, community-based program for suicide prevention in the construction industry. International journal of environmental research and public health, 8(11), 4180–4196. doi:10.3390/ijerph8114180
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(lat.: deprimere = herunterdrücken) Psychische Erkrankung, die durch die Hauptsymptome gedrückte Stimmung, Verlust an Interessen bzw. an Freude und deutliche Antriebsminderung gekennzeichnet ist.