Geschlechtersensible Medizin - politischer und wissenschaftlicher Diskurs/Einführungsartikel

< Geschlechtersensible Medizin - politischer und wissenschaftlicher Diskurs
Version vom 29. Oktober 2019, 13:56 Uhr von Rengstorf (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Die sogenannte geschlechtersensible Medizin (oder auch Gendermedizin) entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten aus der Frauen- und zum Teil auch aus der Männergesundheitsforschung heraus.[1] Mit der Frauenbewegung in den 1970er Jahren entstand die Forderung nach weiblicher Selbstbestimmung auch in medizinischen Fragen. Das Jahr 1975 benannten die Vereinten Nationen dann zum Internationalen Jahr der Frau. In diesem Jahr wurde auch die erste Weltfrauenkonferenz in Mexiko durchgeführt. Das erste eigenständige Dokument der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Frauengesundheit wurde 1994 auf der Women's Health Counts, einer Konferenz über die Gesundheit von Frauen in Mittel- und Osteuropa, verabschiedet: Die sogenannte Wiener Erklärung zu Frauengesundheit. In dieser Erklärung wurden allgemeine Grundsätze zur Gesundheit von Frauen formuliert und auch ein Bekenntnis zur Frauengesundheitspolitik auf nationaler Ebene entwickelt. Damit zusammenhängend wurden in vielen Ländern zum Beispiel Frauengesundheitszentren errichtet und Frauengesundheitsberichte veröffentlicht. [2] 1995 wurde bei der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking ein Aktionsplan beschlossen, der unter anderem Themen der Frauengesundheit enthielt.[2] Darüber hinaus verpflichteten sich die Staaten, die Rechte der Frauen zu schützen, die Armut von Frauen zu bekämpfen, Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung zu verfolgen und geschlechterspezifische Unterschiede im Bildungssystem abzubauen. Zudem sollte die Gleichstellung der Geschlechter in allen Bereichen der Gesellschaft (d. h. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft) gefördert werden.[3] Damit kann die vierte Weltfrauenkonferenz als Plattform für das sogenannte Gender Mainstreaming gesehen werden, das 1999 mit dem Amsterdamer Vertrag auf europäischer Ebene in rechtsverbindlicher Form festgehalten wurde. Im selben Jahr erkannte die Bundesrepublik mit einem Beschluss des Bundeskabinettes Gender Mainstreaming als durchgängiges Leitprinzip an. Mit dem Begriff des Gender Mainstreamings werden Initiativen zur Gleichstellung von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen umrissen. Im Gesundheitssystem verknüpft dieses Mainstreaming zwei wichtige Ziele: Soziale Ungleichheit zu verringern und das Versorgungssystem zu verbessern.[1]

Auf internationaler Ebene wurde in den darauf folgenden Jahren Frauengesundheit vor allem vor dem Hintergrund von Armut, Mangelernährung und reproduktiver Gesundheit behandelt. Das WHO-Regionalbüro in Europa setzte dagegen andere Schwerpunkte. Besonders berücksichtigt wurden hier Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Gesundheitsforschung und Migration. Zu erwähnen sind diesbezüglich zum Beispiel die Madrider Erklärung von 2001 und die internationale Konferenz Gender & Health in Wien 2002.[4] Mit der Madrider Erklärung wurden die Mitgliedsstaaten der WHO Europa aufgerufen, Geschlechterunterschiede in der Krankheitshäufigkeit und der Sterberate stärker zu berücksichtigen. Unumstritten war hierfür die Notwendigkeit geschlechtersensibler Studien, die zu diesem Zeitpunkt nur bruchstückhaft vorlagen.[5]

Dank der genannten gesundheitspolitischen Fortschritte konnte sich in den letzten 20 Jahren das Forschungs- und Praxisfeld der Geschlechtergesundheit maßgeblich weiterentwickeln. Zum Beispiel konnte die interdisziplinäre Forschung zu Geschlecht und Medizin vertieft werden. Gegenwärtig gilt es als selbstverständlich, dass geschlechtersensible Medizin alle Aspekte von biologischem (Sex) und sozialem Geschlecht (Gender) sowie deren Zusammenspiel umfasst. Deshalb ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen humanwissenschaftlichen und medizinisch-naturwissenschaftlichen Fachbereichen unumgänglich.

Auch entwickelte sich eine geschlechtersensible Gesundheitsberichterstattung. Im Jahr 2005 wurde der erste Prototyp eines geschlechtesensiblen Gesundheitsberichtes veröffentlicht. Dieser bereitete vorhandene Forschungsdaten geschlechtervergleichend auf und bettete sie in einen theoretischen Rahmen ein. Darauf folgend wurden vom Robert-Koch-Institut Handreichungen ausgearbeitet, die dazu verhelfen sollten in zukünftigen Gesundheitsberichten die Variable Geschlecht einzubeziehen.

Im Zuge der Frauengesundheitsbewegung wurden Aspekte der Männergesundheit zunächst vernachlässigt und damit auch die Berichterstattung zur Männergesundheit nicht etabliert. Elf Jahre nach der ersten Publikation eines umfassenden Frauengesundheitsberichtes erschien schließlich 2014 der Bericht zur gesundheitlichen Lage der Männer in Deutschland vom Robert-Koch-Institut. Besonders berücksichtigt wurde hierbei die Bedeutung von Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosigkeit für das gesundheitliche Wohlergehen. Zudem wurden konkrete Handlungsfelder für eine männerspezifische Prävention und Gesundheitsförderung abgeleitet.[5]

Um eine geschlechtersensible Gesundheitsversorgung ermöglichen zu können, ist die Einbindung von Geschlechtersaspekten in die medizinischen Lehre unumgänglich. So begründete 2003 die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité in Berlin. Regitz-Zagrosek gab zudem 2011 zusammen mit Sabine Oertelt-Prigione das erste Lehrbuch unter dem Titel Sex and Gender Aspects in Clinical Medicine heraus. Einen eigenen Lehrstuhl für Gendermedizin gibt es in Deutschland derzeit nicht. Die Berliner Charité ist landesweit das einzige Universitätsinstitut für Geschlechterforschung in der Medizin und zudem die einzige Universität, die Geschlechterforschung in den regulären Studienverlauf für Medizinstudierende aufgenommen hat. Darüber hinaus wurde hier (wie auch an anderen Universitäten) ein Modul Gendermedizin für Masterstudierende und Medizinstudierende eingeführt, welches auch als Fortbildung für ÄrztInnen und im Bereich Public Health angeboten wird.[6] In Österreich existieren bereits an zwei Medizinischen Universitäten eigene Lehrstühle für Gendermedizin: 2010 erhielt Alexandra Kautzky-Willer den ersten Lehrstuhl an der Medizinischen Universität Wien, 2014 erhielt Margarethe Hochleitner den zweiten an der Medizinischen Universität Innsbruck. In Österreich ist seit 2010 auch der Erwerb eines Master of Science in Gender Medicine möglich.[7] Die Widerstände in der Schulmedizin waren und sind bei der Institutionalisierung der geschlechtersensiblen Medizin beträchtlich. Dabei sollte Gendermedizin zukünftig als Fach existent werden, damit spezifische Forschungsansätze und Therapiekonzepte vorangetrieben und letztlich die medizinische Versorgung geschlechtersensibel erfolgen kann.[8]

Literatur[Bearbeiten]

Klicken Sie auf "Ausklappen" um die Literaturverweise anzuzeigen.

  1. Kuhlmann, E. Gendertheorien. In: Kolip P, Hurrelmann K, editors. Handbuch Geschlecht und Gesundheit: Männer und Frauen im Vergleich. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Bern: Hogrefe; 2016. p. 34–44 (Programmbereich Gesundheit).
  2. Hochleitner, M. (2013). Gender Medizin–Was ist das? Stand: 06.12.2016.
  3. Erklärung und Aktionsplattform auf der Vierten UN-Weltfrauenkonferenz in Peking. 15. September 1995, deutsche Übersetzung, Website der UN.
  4. Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in NRW: Bericht der Enquetekommission des Landtags Nordrhein-Westfalen. Springer-Verlag, 2013.
  5. Kolip P, Hurrelmann K. Handbuch Geschlecht und Gesundheit: Männer und Frauen im Vergleich. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Bern: Hogrefe; 2016. (Programmbereich Gesundheit).
  6. Krüger, Anja. Gendermedizin. "Die Charité ist Vorreiter". Ärzte Zeitung, 07.03.2014.
  7. Universitätslehrgang Gender Medicine. Medizinische Universität Wien, abgerufen am 13.12.2016.
  8. Kaczmarczyk, Gabriele. Das Geschlecht macht den Unterschied. Eine Einführung in die Gender-Medizin. FrauenRat 6. 2014.
Weiter zum Fachartikel

Biologisches Geschlecht

Soziales Geschlecht